Salih Muslim: Nicht auf Staaten vertrauen

Das Vorgehen des syrischen Regimes und des türkischen Staates gegenüber den Erdbebenopfern habe einmal mehr die Wahrheit über diese Systeme offenbart, sagt der PYD-Vorsitzende Salih Muslim und ruft zur Solidarität auf.

Während immer mehr Leichen unter den Erdbebentrümmern in Kurdistan, Syrien und der Türkei ans Tageslicht kommen und Millionen Menschen obdachlos geworden sind, gehen die türkischen Angriffe auf Nord- und Ostsyrien weiter. Die Zivilbevölkerung wird immer wieder mit Drohnen angegriffen und ganze Landstriche werden mit Artillerie beschossen. Und auch das Regime in Damaskus versucht, das Leid der Menschen nach dem Erdbeben für seine eigenen politischen Interessen zu nutzen. Die Nachrichtenagentur Mezopotamya sprach mit dem Ko-Vorsitzenden der PYD (Partei der Demokratischen Einheit), Salih Muslim, über die Angriffe und die Politik des türkischen Staates angesichts des Erdbebens und das Vorgehen des Regimes in Damaskus.


Das Erdbeben hat die Wahrheit über den türkischen Staat und das Regime in Damaskus gezeigt“

Muslim unterstreicht, dass die hohe Opferzahl eine politische Ursache habe, und erklärt: „Das Erdbeben hat die Wahrheit über den türkischen Staat und das Regime in Syrien ans Licht gebracht. Es ist sehr deutlich geworden, wie sie das kurdische Volk sehen. Es gibt zwar noch viele Menschen unter den Trümmern, aber weil sie Kurden sind, wird ihnen nicht geholfen. Die Hilfe, die wir den vom Erdbeben betroffenen Menschen in Syrien zukommen lassen wollten, wurde vom türkischen Staat und dem syrischen Regime blockiert. Die Hilfe, die die HDP mit ihren begrenzten Mitteln den Erdbebenopfern zukommen ließ, wurde vom türkischen Staat blockiert. Die an die staatliche Katastrophenschutzbehörde AFAD geleisteten Hilfen für die Erdbebenopfer werden versteckt und nicht an die Menschen übergeben.“

Vielleicht freut es sie sogar, wenn die Menschen sterben“

Muslim kritisiert die türkischen Staatsvertreter für ihre wiederholten Erklärungen, bei dem Erdbeben handele es sich um Vorsehung oder Schicksal. So versuche die Regierung, ihre eigene Schuld an Gott zu verweisen. Der PYD-Vorsitzende klagt die ausbleibende Hilfe an und betont: „Die AFAD-Einheiten haben lange Zeit nach dem Erdbeben nichts unternommen. Aber die kurdische Bevölkerung half den Erdbebenopfern in vielen Städten. AFAD ist eine Einrichtung des faschistischen Staates und nutzt die IHH, um Söldnergruppen zu fördern. Es handelt sich um keine Organisation, die gegründet wurde, um Menschen zu helfen. AFAD ist eine Organisation unter Innenminister Süleyman Soylu. Dem Soylu, der die Söldnergruppen versorgt. Soylu ist auch mit Erdoğan verbunden. Deshalb erwarten wir von diesen Organisationen auch keine Hilfe. Vielleicht freut es sie sogar, wenn die Menschen sterben.“

Es geht darum, die Demografie zu verändern“

Muslim kritisiert auch das Regime in Damaskus. Sowohl der türkische Staat als auch das syrische Regime blockieren die Hilfe der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) für die selbstverwalteten Stadtteile Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo sowie auch für das türkisch besetzte Efrîn-Cindirês. Muslim erinnert daran, dass allein in Efrîn-Cindirês fast 1000 Menschen durch das Erdbeben gestorben seien und sich immer noch Menschen unter den Trümmern befänden. Er fährt fort: „Die Regionen, in denen das Erdbeben stattfand, befinden sich vor allem unter der Kontrolle des syrischen Regimes und der mit dem türkischen Staat verbundenen Söldnergruppen. Wir versuchen auf verschiedene Weise, Hilfe zu leisten. Den Aufnahmen zufolge, die uns aus Cindirês erreichen, wird den Menschen in keiner Weise geholfen. Stattdessen werden Menschen von außerhalb unter der Behauptung, es handele sich um Erdbebenopfer, in den dort errichteten Zelten untergebracht. Indem man den Menschen nicht hilft, zwingt man sie in die Migration. Im Rahmen des katarischen Projekts „Stadt der Ehre“ sollen hier Menschen aus dem Ausland angesiedelt werden. Das Ziel ist es, die Demografie der Region zu verändern, denn Cindirês hat eine strategische landwirtschaftliche Bedeutung. Solange die Menschen unter den Trümmern Kurdinnen und Kurden sind, wird nicht geholfen, und die Hilfe, die wir schicken, wird blockiert. Auf diese Weise wird unser Volk unterdrückt.“

Die Angriffe des türkischen Staates

Muslim verweist auf die andauernden Angriffe der Türkei auf Rojava und unterstreicht, dass sie trotz der Erdbebenkatastrophe niemals aufgehört haben. Er erinnert an die dabei getöteten Zivilisten und sagt: „Sie ermordeten Mehmûd Beşar, Vater dreier Kinder, im Dorf Menaz bei Kobanê und in Tel Rifat wurde ein 70-jähriger Zivilist getötet. Der türkische Staat behauptet, dass die Angriffe selbstständig von Söldnern, die unter seiner Kontrolle stehen, verübt worden seien, aber wir glauben das nicht. Ohne Befehl können diese Söldner hier keine einzige Kugel abfeuern. Auf die gleiche Weise wurde Ain Issa angegriffen. Auch die Umgebung von Ain Issa wird beschossen. Die Menschen haben sich auf alles vorbereitet und die Region trotz des Beschusses nicht verlassen. Sie haben Vorsichtsmaßnahmen getroffen.“

Garantiemächte schweigen aus Eigeninteresse“

Muslim kritisiert die Garantiemächte des Waffenstillstands in der Region, Russland und die USA. Diese unternähmen nichts, um die Angriffe der Türkei zu stoppen. „Der Angriff auf das Dorf Menaz bei Kobanê erfolgte über eine russische Basis hinweg. Aber Russland schweigt zu diesem Thema“, so Salih Muslim. „30 russische Soldaten wurden bei Angriffen getötet, aber Russland kommentiert das nicht einmal. Es scheint, dass alle wollen, dass die Kurdinnen und Kurden aufhören zu existieren. Niemand hat den Kurden jemals geholfen. Wenn es Hilfe gab, dann nur im eigenen Interesse der Großmächte.“

Staaten können Modell der demokratischen Nation nicht tolerieren“

Das Schweigen der Großmächte sei darin begründet, dass diese keinen Status für die Kurdinnen und Kurden wollten, sagt Muslim: „Alle haben ihre Pläne auf der Grundlage der Vernichtung der Kurden gemacht. Der türkische Staat versucht seit mehr als 100 Jahren, einen Genozid am kurdischen Volk zu verüben. Auf die gleiche Weise versucht das Baath-Regime, die Kurden hungern zu lassen und zur Flucht zu zwingen. Das Regime will die Kurden vertreiben und Araber an ihrer Stelle ansiedeln. Alle Mächte haben Pläne über den Kopf der Kurden hinweg gemacht. Sie glaubten, dass die Kurdinnen und Kurden schwach sind und im Sterben lägen. Aber die totgeglaubten Kurden stehen heute auf den Beinen und haben ein Projekt. Im Rahmen des Projekts der demokratischen Nation erheben sich alle Völker. Das wollen diese Mächte nicht tolerieren. Deswegen nehmen die Angriffe zu.“ Muslim wirft den Staaten vor, dafür Rache an den Kurden nehmen zu wollen.

Einheit ist der Schlüssel zum Erfolg“

Muslim ruft angesichts der Angriffe zur Einheit auf und sagt: „Die Angriffe zielen in erster Linie auf alle Kurdinnen und Kurden ab, die ihr Haupt erheben. Nachdem diese ausgeschaltet worden sind, werden die kurdischen Kollaborateure ebenfalls drankommen. Wir bemühen uns darum, dass unser ganzes Volk dies versteht. Wir sprechen hier von ‚Türken‘, aber wenn wir uns die Minister anschauen, dann befinden sich unter ihnen viele Kurden. Denken diese Minister nicht nach? Einerseits wird das eigene Volk vernichtet und andererseits dienen sie diesem Staat. Das ist bei den anderen Völkern ähnlich. Wichtig ist hier, die Wahrheit über den Feind zu verstehen. Wenn wir die Wahrheit über unseren Feind verstehen, können wir Maßnahmen gegen ihn ergreifen. Wir müssen das richtig verstehen und bei uns selbst anfangen und uns und unser Umfeld in diesem Sinne organisieren. Alle Nationalstaaten verfolgen ihre eigenen Interessen, niemand sollte glauben, dass der eine oder andere Staat uns helfen wird. Sie interessieren die Waffen, die sie verkaufen können. Es ist ihnen egal, ob Kurden, Armenier oder andere Menschen getötet werden. Wir können dieser Angriffspolitik nur widerstehen, wenn wir zusammenhalten, uns auf unsere eigene Stärke verlassen und unsere Einheit sichern.“