Die Empörung war zu Recht groß, als Regimechef Baschar al-Assad wenige Stunden nach der Erdbebenkatastrophe in der türkisch-syrischen Grenzregion vor zweieinhalb Wochen die mit Unterstützung Ankaras von FSA-Fraktionen besetzte Stadt Mare (auch Marea) im Nordwesten von Syrien bombardieren ließ. International wurde mit scharfer Kritik auf die staatliche Gewalt im Erdbebengebiet reagiert. So sprach die britische Abgeordnete Alicia Kearns von einem „wahrhaft gefühllosen und abscheulichen Angriff“, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock warf Assad eine „Terrorisierung seiner eigenen Bevölkerung“ vor.
Fast zeitgleich schlugen in der nur knapp zehn Kilometer weiter westlich gelegenen Stadt Tel Rifat, die zum Gebiet der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) gehört, ebenfalls Bomben ein – abgefeuert auf Anordnung eines anderen Regimechefs – der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Legitimiert wurden die Angriffe mit Meldungen angeblicher Attacken aus Nord- und Ostsyrien auf die Türkei. Dabei handelt es sich um eine immer wieder vorgeschobene Argumentation, um den Terror gegen die seit Jahren durch Erdogan als existenzielle Bedrohung für sein Land hochstilisierte AANES zu rechtfertigen.
Seit dem Beschuss von Tel Rifat in der Nacht zum 7. Februar folgten diverse weitere Angriffe der Türkei auf die Region. Am 12. Februar wurde ein Mitglied des Diplomatie-Komitees der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), der auch den Strukturen der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) angehörte, infolge eines türkischen Drohnenschlags in Kobanê getötet. Am 16. Februar starb ein 70 Jahre alter Mann aus Aleppo, der im Zuge des Erdbebens in die Stadt Tel Rifat geflüchtet war, durch einen Luftschlag der türkischen Armee. Gestern verübte der NATO-Partner des Westens dann erneut einen tödlichen Drohnenangriff in Rojava. Die Killermaschine traf ein Auto in Qamişlo und tötete einen Zivilisten. Ein Angehöriger der Sicherheitsbehörde Asayîş, der sich in der Nähe aufhielt, wurde verletzt.
Doch auf Reaktionen seitens der Bundesregierung wartet man hier vergeblich. Während Baerbock sich auch Anfang der Woche bei einem Besuch in der erdbebenbetroffenen Provinz Dîlok (tr. Antep) mit scharf formulierter Kritik an die Adresse der Damaszener Regierung nicht zurückhielt – „Das Assad-Regime hat in dem Moment, wo das Erdbeben passiert ist, und in den Stunden und Tagen danach die eigene Bevölkerung weiter bombardiert.“ – reagiert man in Berlin mit gewohnter Ignoranz auf die Kriegsverbrechen des türkischen Bündnispartners. Kein Wort über den Terror Erdogans gegen die AANES und die dortige Bevölkerung, selbst Aufrufe zur „Besonnenheit“, wie es sie bei türkischen Völkerrechtsbrüchen in Rojava bereits mehrfach gab, werden vermieden.
Khaled Davrisch, Repräsentant der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Deutschland, ist frustriert. „Wir sind enttäuscht vom Schweigen Baerbocks. Die Angriffe der Türkei kommen in einer Situation, wo viele Menschen bereits alles durch das Erdbeben verloren“, sagt der Politiker, der in der seit 2019 von der Türkei und dschihadistischen Milizen besetzten Stadt Serêkaniyê (Ras al-Ain) geboren wurde. „In dieser Zeit sollten die Menschen sich helfen und keine Kriege führen“, fordert Davrisch mit Blick auf die Erdbebenkatastrophe, die offiziellen Angaben zufolge bisher rund 50.000 Todesopfer in beiden Ländern gefordert hat. Rücksichtnahme auf die „türkischen Kriegsziele“ dürften in dieser Krise keine Rolle spielen. Ob sich die Bundesregierung vom Kurs der Doppelmoral abbringen und auf den richtigen Weg führen lässt, bleibt zu bezweifeln.