Reggio-Pädagogik in Rojava

Vom 1. bis zum 12. Mai reiste eine Delegation von der Freien Frauenstiftung Rojava (WJAR), Pädagog*innen aus dem Rhein Main Gebiet, nach Rojava, um sich über pädagogische Konzepte und Traumatherapie für Kinder auszutauschen.

Am 15. Juli berichtete Gisela Dutzi, eine der Teilnehmerinnen der Delegation, auf einer Veranstaltung in Hamburg über ihre gemachten Erfahrungen auf der Reise.

Zunächst hatte die Gruppe eine Rundreise durch Rojava unternommen, wo sie viele Frauenprojekte, unter anderem das Gebäude der Freien Frauenstiftung Rojava (WJAR) in Qamişlo, besuchte. Wie an praktisch jedem Ort, den sie besuchten, war Efrîn eines der Hauptthemen, über das die Frauen sprachen. Eine Überlebende berichtete über den Einsatz von bewaffneten Drohnen, gegen den sich die Kämpfer*innen selbst bei Nacht kaum schützen konnten. Mit Wärmebildkameras ausgestattet, übermitteln sie jede Bewegung an den Aggressor, der dann ferngesteuert die Menschen tötet. Nach wie vor sind die Menschen in Rojava entsetzt darüber, dass alle Staaten gemeinsam an dem Angriff mitgewirkt bzw. ihn nicht verhindert haben. Die USA und Europa haben ihre Einwilligung gegeben, Russland hat den Luftraum geöffnet.

Reggio Emilia und Rojava – viele Parallelen

Eins der ersten Treffen der Delegation war mit Erzieherinnen aus Qamişlo. Thema war hier Trauma- und Reggio-Pädagogik. Gisela Dutzi arbeitet seit Jahren in Frankfurt nach dem Ansatz der Reggio-Pädagogik.

Es gibt große Parallelen zwischen der kleinen Stadt Reggio Emilia in Italien und Rojava. Wie in Rojava waren es Partisaninnen, die nach dem Krieg nicht in die alte Frauenrolle zurückwollten und nach einer Alternative suchten. Mit dem Pädagogen Loris Malaguzzi entwickelten sie das Konzept der Reggio-Pädagogik, das heute weltweit als bestes frühkindliches Bildungskonzept angesehen wird und in Hamburg zum Beispiel von dem Verband SOAL umgesetzt wird.

Ab dem 8. September 1943, dem Beginn der Besetzung Norditaliens durch deutsche Truppen, waren viele junge Männer und Frauen in die Berge des Apennin geflüchtet, wo sie als Partisan*innen gegen italienische Faschisten und deutsche Nazis kämpften. Nach ihrem Sieg und der Befreiung im April 1945 kehrten sie in die Ebenen zurück, entschlossen, dem Faschismus, der in Italien eine ganze Generation geprägt hatte, nie wieder Raum zu bieten, nicht politisch und nicht in den Köpfen. Auch die Genossenschaftsbewegung in der Provinz Reggio erlebte einen neuen Aufschwung.

Während manche Ex-Partisanen in die Politik gingen oder Kooperativen aufbauten, engagierten sich viele der früheren Partisaninnen im Bildungsbereich. Warum, so fragten sie sich, darf eigentlich nur die katholische Kirche Kindergärten betreiben? Jene Kirche also, die sich mit dem faschistischen Mussolini-Regime problemlos arrangiert hatte? Also gründeten sie die selbstverwalteten „asili de l popolo“ und entwickelten in den konkreten Auseinandersetzungen ein ganz anderes Erziehungskonzept, das damals revolutionär war – und es bis heute ist.

Die Kinder sollen sich individuell nach ihren Möglichkeiten entfalten und selbst verwirklichen. Dabei lernen sie in Projekten, die ihre unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten fördern. Wesentlich hierbei ist die Wertschätzung der jeweiligen Pädagog*innen, welche eine kontinuierliche Dokumentation der pädagogischen Arbeit und Entwicklungen des Kindes anfertigen.

Gisela Dutzi berichtete, dass bereits Pädagog*innen aus Kobanê Kindergärten in Frankfurt besucht hätten, um sich das Konzept in der Praxis anzusehen.

Besuch bei der Bildungskommission

Auch der Schulunterricht wird in Rojava nach Reggio-Kriterien aufgebaut. „Noten und Sitzenbleiben sind abgeschafft“, berichtet die Delegationsteilnehmerin. „Man hat erkannt, dass Prüfungen unter großem Stress stattfinden und nichts über den tatsächlichen Wissensstand der Kinder aussagen.“ So sei der Unterricht komplett umgekrempelt worden. Der tägliche Unterricht dauert fünf Stunden, danach gibt es eine gemeinsame Reflektion des Unterrichts von einer Stunde, die immer in Gruppen von etwa zehn Schüler*innen stattfindet. „Leider mangelt es an allem, an Unterrichtsräumen, an Materialien. So muss eine Gruppe vormittags unterrichtet werden, eine zweite in denselben Räumen nachmittags“, so Gisela Dutzi.

Traumabewältigung

Die Gruppe konnte auch an einer Elternversammlung eines Kindergartens teilnehmen. Thema war unter anderem die Traumatisierung der Kinder durch Kriegserlebnisse. Eine Mutter beklagte zum Beispiel, dass ihre Kinder immer mit Waffen spielen wollten. Der in der Delegation mitgereiste Traumapädagoge sagte, dies könne auch ein Teil der Traumabewältigung sein. Traumatisierung sei in Ohnmacht begründet, das Gewehr gebe dem Kind in dem Moment das Gefühl, nicht wehrlos zu sein, gebe ihm Macht.

Gisela Dutzi erklärte, die Frauen, die die Delegation begleitet hätten, haben an vielen Treffen teilgenommen, alles sei noch im Umbruch und Aufbruch. Wenn die Delegation manchmal etwas nicht verstanden hätte, hätten sie die Antwort bekommen: „Wir verstehen auch selbst noch nicht alles. Wir sammeln Erfahrungen“, manches was heute als richtig angesehen wird, sei morgen schon wieder falsch. Der Prozess sei sehr dynamisch und undogmatisch. Man lerne ständig aus Fehlern, die gemacht würden.

Besuch im Bexçe Pakrawanan in Amûdê

Die Frankfurter Gruppe besuchte auch das Denkmal der Opfer des Kinobrandes in Amûdê. Bis heute bildet der Brand des einstigen Kinos in Amudê eine offene Wunde. Am 13. November 1960 wurde ein ägyptischer Kinofilm mit dem Titel „Der Mitternachtsgeist“ gezeigt, als Teil einer Woche der Solidarität mit den Kämpfen Algeriens für dessen Unabhängigkeit von Frankreich. Offizielle syrische Stellen zwangen damals die Bevölkerung, Geld für die „algerischen Brüder“ zu sammeln, und in Amûdê ordnete das Regime an, dass alle Schülerinnen und Schüler der dortigen Schulen das Kino besuchen mussten, um den genannten Film zu schauen. Als das Feuer ausbrach, befanden sich 400 Kinder im Gebäude. Mindestens 186 Kinder im Alter zwischen acht und 14 Jahren starben bei dem Brand. Die Tatsache, dass das Feuer damals in dem überfüllten Gebäude ausbrach und die Tragödie nie vom syrischen Regime untersucht wurde, veranlasst Menschen bis heute anzunehmen, dass das Leben kurdischer Kinder praktisch wertlos war.

Eine Initiative in Frankfurt möchte das Kino wieder aufbauen, sie wird unterstützt von Filmemachenden, an Theatern Tätigen und an Universitäten Lehrenden in Großbritannien, Kanada, USA, Mexiko, Chile, Türkei, Ägypten, Frankreich, Portugal, Spanien und Deutschland.

Die Delegation besuchte den Ort des Gedenkens an die Kinder, einen Park in Amûdê, um der Frankfurter Initiative darüber zu berichten.

Weiter berichtete Gisela Dutzi von einer Initiative Stadtteilfreundschaft Frankfurt Kobanê, die auch den Bau eines Waisenhauses in Kobanê unterstützt.

Die Delegation wird in noch mehrmals nach Kobanê reisen, um dort Seminare zum Thema Trauma- und Reggio-Pädagogik abzuhalten. Die nächste Reise ist für den Herbst geplant.