Tag und Nacht für den Aufbau einer neuen Gesellschaft

Interview mit Gisela Dutzi, Teilnehmerin einer Delegation von Pädagog*innen in die Demokratische Föderation Nordsyrien.

Die Revolution in Rojava ist eine Revolution der Frauen“ ist keine Parole, sondern eine Realität, an deren Verwirklichung Tag für Tag gearbeitet wird.

Vom 3.-10. Mai reiste eine Delegation von Pädagog*innen aus dem Rhein-Main-Gebiet, organisiert von der Freien Frauenstiftung Rojava, in die Demokratische Föderation Nordsyrien. Sie besuchte u.a. die Stiftung der freien Frauen Rojava, Kongreya Star, die Frauenorganisation in Rojava, die Frauenberatungsstelle Sara und das Frauendorf Jinwar.

Konntet ihr ohne Probleme einreisen?

Wir waren schon am Grenzübergang Semalka, mussten aber noch einmal zurück und einen Tag in Dohuk warten. Semalka war ganz anders als ich es mir vorgestellt habe. Ich dachte, es ist ein kleiner Grenzübergang, aber dort waren viele Menschen, ganze Familien, die warteten. Auf dem kleinen Boot mit ca. 15 anderen Menschen setzen wir über. Die Menschen sind sehr zugewandt, viele waren schon in Deutschland.

Was war dein Eindruck von Rojava?

Es erstaunte mich zunächst, dass dort ein ganz normaler Alltag stattfindet. Schafe und Ziegen werden gehütet, die Kinder spielen, ziehen in kleinen Gruppen herum usw. Da wir hier vor allem vom Krieg wissen, ist dieser Alltag ausgeblendet.

Was ich dort gesehen habe, hat das, was ich hier in Deutschland darüber gelesen hatte oder erzählt bekommen habe, weit übertroffen. Mein Eindruck ist: Die Menschen dort, vor allem die Frauen, arbeiten Tag und Nacht am Aufbau einer neuen Gesellschaft. Und das unter Kriegsbedingungen und als Menschen, die vom Krieg verletzt und gezeichnet sind, in einer ruhigen, gelassenen und freundlichen Atmosphäre.

Welche Projekte konntet ihr besuchen?

Der Frauenberatungsstelle Sara in Qamişlo geht es um den Aufbau der Zivilgesellschaft: Nach wie vor ist es schwierig, dass eine Frau alleine lebt, verliert sie ihren Ehemann oder trennt sich, ist der Druck groß, sich wieder zu verheiraten. Eine Änderung dieser Mentalität geht sehr langsam voran. Nachdem Gesetze für die Frauen gemacht wurden – wie die Abschaffung der Zwangsheirat und der Ehe unter 18 Jahren – unterstützt und schützt Sara die Frauen, die Gewalt erfahren. Auch Nachbarn oder Lehrer*innen wenden sich an Sara wenn sie mitbekommen, dass eine Frau Gewalt erfährt.

Sie haben uns gebeten zwei Projekte zu unterstützen. Eines für Frauen, ohne Einkommen, deren Kinder zum Teil betteln gehen. Sie möchten sie in Wohnungen unterbringen und ermöglichen, dass sie arbeiten gehen und die Kinder in die Schule können. Außerdem wollen sie ein Waisenhaus für Kinder, deren Eltern im Krieg umgekommen sind, wie z.B. in Kobanê, ein Zentrum, in dem sie Kurse – Malkurse oder ähnliches – für Kinder anbieten können.

Auch Kongreya Star, die Frauenorganisation, konnten wir besuchen, sie arbeiten in allen gesellschaftlichen Bereichen, zum Beispiel Verteidigung oder Ökonomie. Damit Frauen wirtschaftlich unabhängig werden, errichten sie Frauenkooperativen. Das Ziel ist es, noch viel mehr Frauen in allen Arbeitsbereichen zu beschäftigen, außer beispielsweise bei der Straßenreinigung. Da Frauen traditionell putzen, hat man sich dagegen entschieden. Ihre wichtigste Arbeit ist es gesellschaftliche Konflikte zu lösen.

Ein Leben in Würde

Wir haben auch das Frauendorf Jinwar besucht, ein Pilotprojekt für Frauen, die Gewalt erfahren haben und für Frauen von Gefallenen. Frauen sollen die Möglichkeit haben, auch ohne Ehemann zu leben, ohne zurück in die Familie zu müssen, ihr eigenes Leben leben zu können.

22 Häuser sind schon fertig, 30 sollen es werden. Am 25. November, am Tag gegen Gewalt an Frauen, soll die Eröffnung sein. Obstbäume sind schon gepflanzt, Getreide, Gemüse wird angebaut, medizinische Kräuter, Ziegen und Schafe sind schon da.

Das Dorf wird sich in einem Rat selbst verwalten. Jede Woche kommen freiwillige Helfer*innen um den Aufbau voranzutreiben.

Jinwar wird nach ästhetischen, ethischen und ökologischen Gesichtspunkten aufgebaut. Es geht um Selbstversorgung und Selbstverteidigung, es geht um freie Beziehungen, die viel Kommunikation erfordern. Sie wollen auch ihre eigene Medizin herstellen. Die Frauen in Jinwar kämpfen auch gegen den Angriff auf den Körper der Frau, gegen ein männerbestimmtes Frauenbild, das Frauen z.B. dazu bringt, sich ihre Lippen aufzuspritzen.

Jinwar ist ein sicherer Ort, der das Bewusstsein stärken soll, ein Ort der Selbstermächtigung. Mich hat das sehr beeindruckt, der Aufbau unter den Bedingungen des Krieges. Es war ein wunderbarer Besuch, die Frau, mit der wir gesprochen haben, strahlte eine große Ruhe aus.

Entwicklungen, von denen die ganze Welt profitieren könnte

Wir haben die Bildungskommission in Qamişlo und die Akademie der Lehrer*innen in Kobanê besucht. Ich denke dort werden Entwicklungen verwirklicht, von denen die ganze Welt profitieren könnte; sie wären ein Geschenk für alle Schüler*innen denen Prüfungen und Noten das Leben vermiesen. An eigenen Akademien wurden 20.000 Lehrer*innen ausgebildet. Jetzt gibt es 2000 Schulen im Kanton Cizîrê. 2016 wurde die Universität Rojava gegründet mit sieben Fakultäten und 14 Lehrbereichen.

Bildung ist kostenlos. Es wird in kurdischer, aramäischer und arabischer Sprache unterrichtet. Leider mangelt es an Büchern und Materialien. Die Lehrer*innen berichteten uns, dass sie ein Jahr lang die Bildungssysteme der Welt studiert haben und sich entschieden haben, Noten und Prüfungen abzuschaffen, keine Schülerin darf sitzenbleiben. Stattdessen gibt es Reflektionsgespräche mit Schülerinnen und Lehrer*innen, alle zusammen sind für den Bildungsprozess verantwortlich.

Auf unsere Frage, nach den Schulbänken, die auch in den Kindergärten stehen, lächeln unsere GesprächspartnerInnen: „Ja, das ist das alte Schulsystem Syriens, nach militärischen Gesichtspunkten ausgerichtet, wir haben längst entschieden, dass das weg soll, aber es fehlen uns noch die Mittel für alternatives Mobiliar.“

In großem Tempo werden Kindergärten v.a. von der Stiftung der freien Frauen aufgebaut, damit die Frauen sich noch mehr am gesellschaftlichen Aufbau beteiligen können.

Es wird alles Mögliche getan, um die verschiedenen Sprachen Arabisch, Kurdisch und Aramäisch gleichberechtigt zu berücksichtigen. Jedes Kind soll die Möglichkeit haben erst einmal gut die Muttersprache zu erlernen. Uns wurde gesagt: „In unseren Statuten und in unserer Praxis wird es keinen Rassismus geben!“

Mehr Druck auf die deutsche Regierung ist wichtig

Was habt ihr über die Situation in Efrîn erfahren?

Wir hatten kaum ein Gespräch, in dem Efrîn nicht erwähnt wurde, und es lag uns natürlich besonders am Herzen.

Die Menschen in Efrîn hatten fünf Jahre lang ein gutes Leben, viele arabische Flüchtlinge wurden aufgenommen und versorgt. Jetzt werden dort IS-Angehörige angesiedelt. Die kurdische Bevölkerung ist weitgehend vertrieben und lebt in Şehba, in einem Flüchtlingslager. Diejenigen, die bleiben, werden terrorisiert; die letzte Meldung, die uns erreichte, war, dass mehrere Mädchen einer Familie vergewaltigt wurden.

Was hier kaum bekannt wurde, ist die schreckliche Tatsache, dass massenhaft Drohnen im Krieg eingesetzt wurden. Die Kämpferinnen berichteten uns darüber, dass sie sich gegen die Drohnen kaum schützen konnten. Sie sind mit Wärmesensoren ausgestattet und verfolgen dich in jeden Winkel. Sie berichteten, dass sie sich gegen Flugzeugangriffe schützen könnten, nicht aber gegen die von bewaffneten Drohnen.

Wir müssen hier wohl davon ausgehen, dass diese Technologie von der NATO kommt, denn die Türkei produziert diese Art von Drohnen nicht.

Die Menschen in Efrîn sind enttäuscht von der „internationalen Staatengemeinschaft". Bis zuletzt hatten sie auf internationale Unterstützung gehofft, aber um ein Massaker zu verhindern, haben sie sich entschieden, Efrîn zu verlassen. Uns wurde gesagt: „Im Kampf um Kobanê hat die Weltgemeinschaft funktioniert, bei Efrîn hat sie versagt.“

Die Situation in Efrîn kann nicht so bleiben.


In Frankfurt am Main findet am Sonntag, den 17. Juni, eine Veranstaltung des Frauenrates Amara, der Initiative Frauen für Afrin und der Städtefreundschaft Frankfurt-Kobanê im Mesopotamischen Kulturzentrum, Gwinnerstraße 28, in Frankfurt am Main (U-Bahnhaltestelle Gwinnerstr.U7, U4) statt.

Ab 9.00 Uhr gibt es dort gemeinsames Frühstück, ab 10.30 Uhr werden die Teilnehmer*innen der Delegation und einer weiteren vom Verein Städtefreundschaft Frankfurt-Kobanê werden von ihren Erfahrungen berichten, Bilder zeigen und sich Fragen und Diskussionen stellen.