Ostkurdistan – Land der Volksaufstände

Eine Einordnung des Kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit (Civaka Azad) zu den aktuellen politischen Entwicklungen in Ostkurdistan und Iran nach der Ermordung von Jîna Mahsa Amini.

In der Islamischen Republik Iran müssen „Zucht und Ordnung“ strikt eingehalten werden. Zur Umsetzung dessen gibt es eine eigene islamische Religionspolizei, auch als Sittenpolizei bekannt, die insbesondere darauf Acht gibt, dass die „Kleidungsvorschriften“ im Land eingehalten werden. Vor Kurzem merkte das UN-Menschenrechtsbüro in Genf an, dass diese Sittenpolizei in den letzten Monaten ihre Patrouillen ausgeweitet habe und Frauen ins Visier nehme, die das islamische Kopftuch, den sogenannten Hidschab, nicht „regelkonform“ tragen. Diese Politik führt seit dem 13. September dazu, dass die Gesellschaft in Rojhilat¹ und des Iran überkocht.

Die Frau mit den zwei Namen: Jîna Amini

Jîna Amini war eine 22-jährige junge Kurdin aus der ostkurdischen Stadt Seqiz (Saqqez). In den sozialen Medien und in den meisten Berichten, die aktuell über die Situation in Iran erscheinen, wird sie jedoch als „Mahsa Amini” bezeichnet. Es ist Zeichen der anti-kurdischen Politik, die der Iran seit Jahrzehnten verfolgt. „Jîna“ ist Kurdisch und steht für Frau; der kurdische Name ist jedoch verboten, weswegen ihre Eltern damals gezwungen waren, ihr einen anderen offiziellen Namen zu geben. Deshalb hieß Jîna bei den Ämtern „Mahsa“, was aus dem altpersischen kommt und so viel wie „wie der Mond” oder „die Mondähnliche” bedeutet.

Am Dienstag vergangener Woche, also dem 13. September, befand sich Jîna gemeinsam mit ihrem Bruder auf den Weg aus ihrer Heimatstadt in Richtung Teheran, als sie von der Sittenpolizei aufgehalten wurden. Diese wollten Jîna aufgrund ihres „unislamischen“ Outfits festnehmen. Ihr „unislamisches“ Outfit zeichnete sich dadurch aus, dass ein Teil ihrer Haare unter dem Hidschab zu sehen war. Sie ist deshalb auf eine Polizeiwache gebracht worden. Nach wenigen Stunden fiel Jîna ins Koma, wurde dann ins Krankenhaus gebracht, wo sie letztlich am 16. September verstarb. Während die offiziellen Stellen von „plötzlichen Herzproblemen“ bzw. später auch von Vorerkrankungen sprachen, war der Öffentlichkeit relativ schnell klar, was passiert sein muss. Jîna war bereits auf dem Weg in die Polizeiwache von mehreren Polizisten geschlagen und gefoltert worden und das ging auch auf der Wache weiter. Die Menschen wussten es, weil es bereits Tausenden anderen zuvor so ergangen war, weil Jînas Bruder die ersten Schläge noch selbst mitansehen musste und weil wenige Tage später eine Hackergruppe durch „Iran International“, einem Medium der iranischen Exil-Opposition, die Krankenhausakten mit CT-Aufnahmen von Jîna leakte, in denen klar erkenntlich waren, dass sie durch massive Gewalteinwirkung auf den Kopf gestorben ist.

Die iranische Regierung versuchte umgehend das Geschehene zu vertuschen. Die Polizeibehörde forderte von Jînas Eltern, dass diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit noch in derselben Nacht die Leiche ihrer Tochter beerdigen sollten. Diese weigerten sich jedoch und beerdigten sie erst am nächsten Morgen in Seqiz, wo der Startschuss für die Volksaufstände im Iran gesetzt wurde.

Beginn der Volksaufstände

Am 17. September begannen die Aufstände in Seqiz, die sich schnell auf andere ostkurdische Städte wie Ûrmiye (Urmia), Serdeşt (Sardascht) und Sine (Sanandadsch) ausweiteten. Junge Frauen dominieren von Beginn an diese Aufstände. Die zwei zentralen Slogans, die seit Tagen auf den Straßen nahezu aller Städte des Iran widerhallen, lauten „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frauen, Leben, Freiheit) und „Bimre dîktator“ (Tod dem Diktator). Der iranische Staat versuchte zunächst noch verzweifelt seine Version zum Tod Jînas als Wahrheit zu verkaufen. So sollte der Vater Jînas dazu gezwungen werden zu erklären, dass seine Tochter tatsächlich an Vorerkrankungen litt. Dieser gab dem Druck der iranischen Behörden allerdings nicht nach. Auch den behandelnden Ärzt:innen wurde ein Maulkorb auferlegt. Sie dürften kein Wort über die Todesumstände an die Öffentlichkeit dringen lassen. Dann setzen die Verantwortlichen im Staat die übliche Mär in Umlauf, dass die Volksaufstände vom Ausland gelenkt seien. Doch auch das kaufen die Menschen im Land dem Staat nicht mehr ab. Zu viele Menschen sitzen zur Todesstrafe verurteilt in den Gefängnissen, größtenteils weil sie politisch anders denken als die Machthaber des Iran; zu viele Menschen verschwinden spurlos, zu viele Frauen werden täglich gequält und zu groß ist die Unterdrückung der Minderheiten im Iran.

Mehrere politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen in Ostkurdistan kamen im nächsten Schritt zusammen und riefen zum 19. September zu Massenprotesten und zu einem Generalstreik auf. An diesem Tag blieben fast alle Läden in Ostkurdistan geschlossen. Auch die meisten Universitäten und Schulen blieben leer. Stattdessen versammelten sich die Massen auf den Straßen.  Mit diesem Moment breiteten sich schließlich die Volksaufstände im ganzen Land aus. In der Hauptstadt Teheran wie in vielen anderen Metropolen und kleineren Städten gehen die Menschen auf die Straßen. Die Aufstände haben in den kurdischen Gebieten des Iran ihren Anfang genommen, doch heute werden sie in allen Teilen des Landes und von den verschiedensten Volksgruppen getragen. Angeführt von Frauen kämpfen aktuell Kurd:innen, Perser:innen, Araber:innen, Aserbaidschaner:innen und Belutsch:innen Seite an Seite gegen das repressive Regime in Teheran. 

Kämpfen ist dabei das richtige Stichwort, denn der iranische Staat ließ die Demonstrationen innerhalb kürzester Zeit eskalieren, wodurch vielerorts regelrechte Straßenschlachten entstanden. Nachdem die Versuche, die Demonstrationen zu verbieten, scheiterten, versuchten sie die Menschen von den Straßen zu schlagen. Die „Sittenpolizei“, „Aufstands-Bekämpfungspolizei“ und teilweise sogar Militärs wurden geschickt, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Doch die Menschen trieben die Sicherheitskräfte zurück. Frauen rissen im öffentlichen Raum ihre Hidschabs vom Kopf und verbrannten sie, wie die Ezidinnen es taten, als sie vom „Islamischen Staat“ (IS) befreit wurden. Die iranische Staatsfahne wurde vielerorts von den Masten geholt und Bilder der iranischen Staatsführung wurden verbrannt.

Drei zentrale Forderungen der Protestierenden scheinen sich bei den anhaltenden Volksaufständen herauszukristallisieren:

  1. Aufklärung des Mordes und Verurteilung der Mörder
  2. Ein Ende der femizidalen Politik im Iran
  3. Ende des islamischen Regimes im Iran

In den letzten Jahren gab es immer wieder Proteste im Iran. Doch die Größe und Ausbreitung der aktuellen Aufstände erscheint deutlich umfassender. Dasselbe trifft auch für die Wut der Massen auf das Regime zu. Die internationale Solidarität ist ebenfalls sehr groß. Insbesondere in den sozialen Medien machen hunderttausende Menschen Druck und haben dafür gesorgt, dass das Aufbegehren der Frauen und allgemein der Menschen des Iran auch in der Mainstream-Presse seinen Platz findet. Weltweit fanden und finden weiterhin Solidaritätsaktionen mit den Protesten im Iran statt. Zuletzt haben sich selbst die Onlineaktivist:innen von „Anonymous“ eingeschaltet und die „Operation Iran“ gestartet. Nach eigenen Angaben haben sie mehrere staatliche Websites, die zentrale Nachrichtenplattform, die Website der Zentralbank und über 300 Überwachungskameras vom Netz nehmen können.

Die Entwicklungen der letzten Tage

Kurz bevor der iranische Präsident Ebrahim Raisi am 21. September bei den Vereinten Nationen in New York seine Rede gehalten hat, in welcher er die Entwicklungen im eigenen Land verschwieg, wurde in weiten Teilen des Iran und insbesondere in Ostkurdistan das Internet abgeschnitten. Zunächst wurden Social-Media-Plattformen wie Instagram und der Messengerdienst WhatsApp blockiert, danach das komplette Internet abgeschaltet. Das iranische Regime versucht so nicht nur die Kommunikation unter den Protestierenden zu unterbinden, sondern auch zu verhindern, dass Informationen über die Ereignisse an die Außenwelt gelangen. Die Menschen befürchten eine totale Eskalation seitens des Regimes. Es gibt verschiedene Zahlen über Getötete und Verwundete. So veröffentlichte die „Hengaw Organization for Human Rights“ am 22. September folgende Zahlen: 15 Getötete, 733 Verletzte, dutzende Entführte und mehrere tausend Verhaftungen mit steigender Tendenz. Folgende Personen sind den Angaben nach durch die iranischen Sicherheitskräfte bislang getötet worden (nahezu alle genannten Städte sind ostkurdische Städte und die meisten Getöteten sind Kurd:innen):

  • In Ûrmiye: Farjad Darwishi, Abdulla Mohammadpour, Matin Abdullapour, Dansh Rahnima, Amin Marafat, Milan Haqiqi und Sadruddin Litani.
  • In Dîwandere: Foad Qadimi und Mohsen Mohammadi
  • In Seqiz: Faridoun Mahmoudi
  • In Kirmaşan (Kermanschah): Mino Majidi
  • In Şahabad (Islamabad-e-gharb): Saeid Mohammadi
  • In Îlam: Mohsen Qaisari
  • In Dêgûlan (Dehgolan): Reza Lotfi
  • Pîranşar (Piranschahr): Zakarya Khayal

In den sozialen Medien verbreiten sich nach aktuellem Stand verschiedene Aussagen und Gerüchte. So soll zum Beispiel in Seqiz und in anderen Städten der Ausnahmezustand ausgerufen worden sein und das Militär soll in die Städte mit Panzern einmarschiert sein. Andernorts hieß es mehrfach, dass Soldaten und Polizisten mit scharfer Munition auf Zivilist:innen schießen.

Doch trotz der eskalierenden Gewalt durch das iranische Regime lässt sich jetzt schon sagen,  dass die Aufstände tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen werden. Das Mullah-Regime hat bisher mit Angst und Gewalt die Menschen zum Schweigen gebracht. Die Mauer des Schweigens wurde nun durchbrochen. Die Menschen – vor allem die Frauen – haben sich nun erhoben und sind sich selbst und ihrer Kraft einmal mehr bewusst geworden.


[1] Ostkurdistan; Hauptsiedlungsgebiete der Kurd:innen im Iran, die nach den heutigen Nationalstaatsgrenzen im westlichen Iran liegen und das Epizentrum der landesweiten Proteste sind.