Mehmûd: AKP/MHP-Regierung greift mit NATO-Mitteln an

Der YPG-Sprecher Nuri Mehmûd sagt zu den Angriffen auf Nord- und Ostsyrien: „Die AKP/MHP-Regierung verfolgt für die Türkei eine dschihadistische Strategie und erpresst die europäischen Staaten.“

In den letzten Tagen hat der türkische Staat seine Angriffe auf Nord- und Ostsyrien intensiviert. Im ANF-Interview äußert sich der Sprecher der Volksverteidigungseinheiten (YPG), Nuri Mehmûd, zu den Hintergründen der Angriffe, der Lage vor Ort und den bevorstehenden Entwicklungen.

Nach dem 15. August nahmen die Angriffe des türkischen Staates zu. Worauf führen Sie das zurück?

In Rojava und Nord- und Ostsyrien wurde unter der Avantgarde des kurdischen Volkes ein wichtiger Schritt gemacht. Sowohl das kurdische Volk als auch die anderen Völker der Region spielten dabei eine entscheidende Rolle. So entstand ein demokratisches Projekt, das für die Region ein Novum darstellt. Der türkische Staat, der auf den Prinzipien des Chauvinismus und Rassismus basiert, hat die Identität, Existenz und Kultur anderer nationaler Identitäten, insbesondere der kurdischen Identität, immer als Gefahr für seine eigene Existenz betrachtet. Deshalb machte der türkische Staat die Region von Efrîn bis Şehba, von Til Temir bis Ain Issa und auch die sich selbst nach dem Modell von Rojava organisierende Şengal-Region zum militärischen Angriffsziel. Das ist die Mentalität des türkischen Staates. Vor allem in den letzten Jahren hat die AKP mit ihrer weit vom echten Islam entfernten politisch-islamischen Denkweise zusammen mit dem MHP-Faschismus begonnen, eine Politik zu verfolgen, die nicht im Interesse der Region, der Völker, ja nicht einmal der Türkei und der internationalen Mächte ist. Diese Regierung sieht sich an keine Prinzipien, Allianzen und Gesetze gebunden.

Erdoğan hat Bahçeli (Vorsitzender der rechtsextremen MHP) zu seinem Partner gemacht und versucht, so seine Diktatur auszubauen. Beide nutzen den türkischen Staat und seine Institutionen für ihre Zwecke. Die Türkei ist für den gesamten Mittleren Osten und Europa in Bezug auf ihre geostrategische und geografische Lage von strategischer Bedeutung. Auch die internationale Gemeinschaft nutzt die Position der Türkei. So ist die Türkei Mitglied des Europarats und der NATO. Erdoğan und Bahçeli nutzen diese Position der Türkei auch in Bezug auf die internationale Gemeinschaft. Die USA, europäische und asiatische Länder und ihre Regierungen agieren auf der Grundlage ihrer politischen Eigeninteressen. Daher scheren sie sich nicht um Gesetze, Grundsätze und bestehende Bündnisse und Vereinbarungen. Die Menschen in Amerika, Europa und Asien haben unterschiedliche Ansichten. Auch die Menschen im Nahen Osten haben andere Ansichten. Aber die Regierungen haben unterschiedliche Meinungen. Daher kommt keine echte Entscheidung zustande.

Wie beurteilen Sie das Schweigen der Garantieländer und der internationalen Mächte gegenüber den Angriffen?

Die herrschenden Regierungen agieren den Interessen ihrer Kabinette entsprechend und orientieren sich nicht an den bestehenden Gesetzen, Bündnissen und den Hoffnungen ihrer Bevölkerung. Diese Tatsache nutzt auch die türkische Regierung, um die Ideologie des politischen Islam und des türkischen Rassismus voranzutreiben. Aus diesem Grund geht sie gewaltsam gegen andere nationale Identitäten, Kulturen und Meinungen vor. Die türkische Armee erhält viel Unterstützung gerade von Europa und der NATO. Sie nutzt diese Unterstützung gegen die Völker der Region, die ein würdiges, freies und demokratisches Leben wollen. Der türkische Staat nutzt die Kluft zwischen den internationalen Mächten effektiv. Es gibt eine Krise in der internationalen Gemeinschaft. Die türkische Regierung betrachtet das Modell der Demokratie, in dem die verschiedenen ethnischen, kulturellen und religiösen Identitäten geschwisterlich zusammenleben, als Bedrohung. Die ganze Welt steht im Austausch mit der Region. Es besteht keine Notwendigkeit, in die Region einzumarschieren. Die NATO muss nicht Milliarden von Dollar ausgeben, Tausende von Soldaten oder fortschrittliche Technologie schicken.

Es wurden ernsthafte Erfahrungen gemacht und der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) hat das beste Ergebnis hervorgebracht. Die Regierung der Türkei verfolgt eine Politik, die auf ihren eigenen Interessen und nicht auf den Interessen des Landes basiert. Um das zu erreichen, versucht sie eine separate Armee aufzubauen. Dabei handelt es sich um eine Söldnerarmee. Mit den Mitteln der NATO werden der IS, al-Nusra und die Muslimbruderschaft unterstützt und Menschen sogar aus Afghanistan hierhergebracht. Diese Politik der Türkei verändert nicht nur die Demografie der Türkei, sondern auch die Demografie der Region. Diese Politik basiert auf der Schwäche der bestehenden Regierungen in den USA, Europa, Asien und dem Nahen und Mittleren Osten. Menschenrechte, ökologisches Gleichgewicht oder Corona sind für die Regierung der Türkei nicht besonders wichtig. Wichtig für sie ist, ihre Macht zu bewahren und ihr Schreckensregime fortzusetzen.

Warum schweigen die Garantiemächte und mit welchen Mitteln greift der türkische Staat an?

Mit Hilfe der Garantiemächte Russland und den USA hat die türkische Regierung große Erfolge erzielen können. Trotz der wiederholten US-Erklärungen, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) Bündnispartner im Krieg gegen den IS-Terrorismus seien, greift die Türkei die QSD ohne irgendwelche Hindernisse an. Obwohl die Vereinigten Staaten allen Ländern der Internationalen Koalition, insbesondere Russland, und der ganzen Welt gezeigt haben, dass sie mit QSD zusammenarbeiten, sehen wir, dass die AKP/MHP-Regierung die QSD mit den Mitteln der NATO angreift.

Weder die USA, noch Russland oder irgendein Land, das Teil der internationalen Koalition ist, oder ein NATO-Staat, positioniert sich in irgendeiner Weise gegen diese Angriffe der Türkei. Die AKP/MHP-Regierung hat eine dschihadistische Strategie für die Türkei geschaffen und erpresst die europäischen Staaten. Die Türkei hat gegen die NATO ihre NATO-Armee in den Dienst des IS, der Muslimbruderschaft und von al-Qaida gestellt. Die Präsenz der USA und Russlands in der Region liegt im Interesse der derzeitigen Regierung. Die Türkei müsste gemäß Artikel 1, Artikel 2, Artikel 3 des mit den USA und Russland abgeschlossenen Waffenstillstandsabkommens handeln, in welchen die Garantiemächte für den Waffenstillstand festgelegt sind. Wir sehen jedoch, dass die Türkei den Luftraum von Rojava und Nord- und Ostsyrien nutzt und mit Flugzeugen angreift. Bei den Flugzeugen und der eingesetzten Technik handelt es sich um NATO-Technologie. Dort werden aber auch die Terrorgruppen organisiert. Dabei handelt es sich um Gruppen wie den IS und al-Qaida. Erdoğan hat in diesem Zusammenhang eine Zeitlang immer wieder von der „Armee Mohammeds“ gesprochen. Erdoğan benutzt diese Gruppen heute ganz offen. Aber die technischen Mittel, die er diesen Gruppen gibt, sind die Mittel der NATO, Europas und der USA. Unter dem Slogan des Islam benutzt er einen vom wahren Islam weit entfernten politischen Islam. Auch demgegenüber wird wie in Bezug auf die Angriffe geschwiegen. Gleichzeitig hat es Freundschaftsversprechen der USA und Russlands gegenüber nordsyrischen Kräften wie den QSD gegeben. Aber gegen das türkische Unrecht wird keinerlei Position bezogen.

Als YPG sagen wir den USA und Russland, dass auf die Artikel, die im Waffenstillstandsabkommen zwischen den QSD und der Türkei festgelegt sind, bestanden werden muss. Die beteiligten Parteien müssen die vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfindenden tagtäglichen Angriffe der Türkei diskutieren. Die USA und Russland handeln nicht nach den Prinzipien ihrer Garantien, und auch dazu wird nichts gesagt.

Wie sieht die Bevölkerung dieses Schweigen?

Aufgrund dieses Schweigens verlieren beide Staaten allmählich ihr Prestige. Wir haben in der von den USA geführten Internationalen Koalition und mit Russland gegen den IS gekämpft. Wir haben nicht nur unser Volk verteidigt, die IS-Anschläge in Paris, Berlin, den USA und Moskau wurden in Raqqa organisiert. Im Kampf gegen den IS haben die QSD, YPG, YPJ und die anderen Kräfte der Region der Welt bewiesen, dass sie kämpfen, um der Welt einen Dienst zu erweisen. Diese militärische Strategie wurde wiederholt öffentlich gemacht. Es war ein Kampf für die Menschheit. Das können wir auch daran sehen, dass das Lager al-Hol und die Gefängnisse hier voll mit den gefährlichsten IS-Mitgliedern sind. Der türkische Präsident dringt unter dem Vorwand „Die Sicherheit meines Landes steht auf dem Spiel“ vor den Augen der Welt auf syrisches Territorium vor und greift die revolutionären Errungenschaften in Rojava und Nord- und Ostsyrien an. Er greift auch die anderen nationalen Identitäten und die Demokratie in der Region an.

Länder wie die Garantiemächte Russland und die USA müssen ihr Prestige bewahren und nicht nur an die kurzfristigen Interessen ihrer Regierungen denken. Sie müssen ein Bild vermitteln, das der ihnen zugemessenen Mission entspricht. Der Tod der drei Frauen in Kobanê, die Freundinnen und Freunde, die im Kommunikationszentrum in Til Temir gefallen sind, sowie die mörderischen Angriffe auf den Straßen von Şengal und Alifero zeigen, welch inkohärenten militärischen Ansatz diese Kräfte verfolgen. Das Vorgehen ist zutiefst gespalten. All dies geschieht unter dem Namen der NATO. Auch ein Staat wie die Türkei agiert im Namen der NATO. Das liegt weit jenseits der Prinzipien der NATO. Die drei in Kobanê getöteten Frauen waren Zivilistinnen, die in Ain Issa getöteten Kinder waren Zivilist:innen, und auch in Zirgan und Til Temir wurden zivile Ziele attackiert.

Die Region ist ja auch von einem Embargo betroffen. Wer steht dahinter?

Bei der Region, die durch QSD und YPG befreit wurde, handelt es sich um ein Drittel Syriens. 40 Prozent der syrischen Bevölkerung leben heute in diesen Gebieten in dem dort aufgebauten System. Wir sehen jedoch, dass die Entscheidungen der internationalen Gemeinschaft sich entweder an den Interessen der Türkei oder des Iran orientieren. Der Grenzübergang Bab El Hawa nach Idlib wurde geöffnet, über das Mittelmeer kommt Unterstützung für die vom Regime kontrollierten Gebiete, aber über unsere Gebiete wurde ein schweres Embargo verhängt. Trotz der Bedeutung unserer Region wurde der Grenzübergang Til Koçer nicht geöffnet. Also sucht man andere Wege. Viele Menschen in Nord- und Ostsyrien setzen alle möglichen Mittel ein, um Schmuggel über die Grenze zu betreiben.

Diese Schmuggelaktivitäten können für die Region zu einer Falle werden, egal gegen welche Seite sie gerichtet ist. Es wird versucht, jeden, der mit diesen Aktivitäten in Kontakt kommt, zum Agenten des MIT oder des syrischen Regimes zu machen. Aus diesem Grund sind die Spionageaktivitäten in dieser Region als Ergebnis der Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber dieser Region zu betrachten, einer Region, in der ein bedeutender Teil der Völker lebt und die 35 Prozent des syrischen Territoriums ausmacht.

Wenn wir uns den Revolutionsprozess anschauen, werden wir feststellen, dass die Kräfte, die die Gesellschaft am meisten verteidigt haben, die Kräfte sind, die dort entstanden sind. Journalist:innen, Forschende, Politiker:innen, Strateg:innen und Diplomat:innen, die in die Region kamen, wurden von der Gesellschaft verteidigt. Selbst die internationalen Streitkräfte, die in die Region kamen, hatten nicht die Verluste zu beklagen, die sie an anderen Orten erlitten hatten. Selbst die USA haben nicht die Verluste erlitten, die sie im Irak und in Afghanistan zu beklagen hatten. Gleichzeitig hat jeder Mensch, der in dieser Region leben möchte, hier in Sicherheit gelebt und tut dies auch weiterhin.

Mehrsprachigkeit und Vielfältigkeit sind die zentralen Elemente dieser Region. Dies soll durch Geheimdienstaktivitäten gestört werden. Warum?

Die von uns beschriebenen Ansätze haben zu einem Embargo geführt. Es ist jetzt nötig, Rechtsmittel gegen dieses Embargo einzusetzen. Dennoch wird gegen Rojava und Nordostsyrien ein feindliches Embargo verhängt. Die Kräfte, die dieses Projekt als Hindernis betrachten, nehmen die Bevölkerung ins Visier, schwächen sie und versuchen, sie zu MIT-Agenten oder Spionen zu machen.

Die Menschen sollen durch mafiöse Methoden, Drogen, Prostitution und Geld korrumpiert werden. Zweifelsohne sind sich unsere Kräfte dieser Situation bewusst und führen ihren Kampf fort. Auch die Institutionen der autonomen Verwaltung bemühen sich nach Kräften, das Embargo zu brechen. Wenn der MIT oder andere Geheimdienste derzeit in der Region so aktiv sind, dann vor allem, weil sie in Schwierigkeiten sind.

Welche Kräfte stehen einer Lösung in Syrien im Wege?

Nach dem IS hätte sich in Syrien eine politische Lösung entwickeln müssen. Trotz der Verhandlungen in Genf, Astana und Sotschi usw. wurde bis heute keine Lösung gefunden. In den letzten Jahren haben wir jedoch gesehen, dass die Frage der Lösung der Krise den Menschen in Syrien entrissen wurde und in die Hände der AKP/MHP-Regierung übergegangen ist. In den besetzten Gebieten sagen die von Erdoğan unterstützten Söldnergruppen der internationalen Öffentlichkeit immer wieder: „Wir sind bereit, nach Libyen zu gehen, wir sind bereit, nach Armenien zu gehen, wo auch immer es einen Krieg gibt, stehen wir bereit.“

Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wird in diesen Regionen ein osmanisches Kalifat aufrechterhalten. Deshalb gibt es keine Lösung. In Rojava und Nordostsyrien sehen wir, dass die kurdische, arabische, turkmenische, tscherkessische und assyrische Bevölkerung, die Menschen muslimischen, christlichen, ezidischen Glaubens in Frieden und Ruhe zusammenleben.

Wir sehen, dass auf den Friedhöfen Gefallene aus allen ethnischen und religiösen Identitäten liegen. Ist es denn möglich, eine Lösung für Syrien ohne die Menschen in Syrien zu finden? Der türkische Staat und seine Proxies verhindern eine Lösung in Syrien. Die internationale Gemeinschaft muss diese Realität erkennen. Allerdings nehmen die Garantiemächte wie Russland und die USA Rücksicht auf die Interessen des türkischen Staates, der AKP/MHP-Regierung. Außerdem wird behauptet, dass die Türkei in Syrien für ihre so genannte „innere Sicherheit“ kämpft, was jedoch nicht stimmt. Die Türkei ist für uns ein sehr wichtiger und strategischer Staat. Wenn es in der Türkei Sicherheit und Demokratie gibt, werden wir gute Nachbarn sein.

Wie groß ist das Gebiet, das Sie kontrollieren, und welcher Anteil der syrischen Bevölkerung lebt in diesem Gebiet? Warum ignorieren die internationalen Kräfte dies?

Es gibt eine 700 Kilometer lange Grenze zwischen Syrien und der Türkei. Der größte Teil dieser Grenze liegt in unserer Region (500 Kilometer), wo sich die QSD, YPG, YPJ und andere Kräfte befinden, und es ist in unserem Interesse, wenn die Grenzen der Türkei sicher sind. Wenn die Türkei ein demokratischer Staat ist, wenn sie ihre Beziehungen zu uns auf demokratische Weise pflegt, ist sie für uns genauso wichtig wie für Europa. Die Türkei zieht es jedoch vor, anzugreifen, was zu keiner Lösung führt. Das wirkt sich aber nicht nur auf Rojava und Nord- und Ostsyrien, sondern auch auf die Länder, die bisher die Augen vor der Politik der Türkei verschlossen haben, aus. Es wird auch die Menschen betreffen, die in diesen Ländern leben. Die Türkei stellt nicht nur für Rojava und Nordostsyrien eine große Gefahr dar, sondern auch für den gesamten Nahen und Mittleren Osten. Dies ist eine internationale Angelegenheit, nicht nur eine Angelegenheit zwischen Rojava und Nordostsyrien, denn Syrien ist heute ein geteiltes Land. Syrien befindet sich in einem Chaos. Das Chaos reicht vom bestehenden Regime, das mit seiner Politik das internationale Embargo verursacht hat, nach Idlib, von den Golan-Höhen bis nach Efrîn, Azaz und Cerablus, wo sich der IS, al-Qaida und die Muslimbruderschaft mit ihren Milizen niedergelassen haben.