Kurze Pause in Idlib: Der Sultan zu Füßen von Katharina der Großen
Das schwammige und widersprüchliche Moskauer Abkommen zwischen Erdogan und Putin deutet darauf hin, dass in dem Krieg in Idlib nur eine kurze Pause eingelegt worden ist.
Das schwammige und widersprüchliche Moskauer Abkommen zwischen Erdogan und Putin deutet darauf hin, dass in dem Krieg in Idlib nur eine kurze Pause eingelegt worden ist.
Nach den heftigen Kämpfen in Idlib haben der russische Staatschef Wladimir Putin und sein türkischer Amtskollege Tayyip Erdogan am 5. März in Moskau ein neues Abkommen unterzeichnet.
Beide Seiten haben mehrfach als Grund für die Kampfhandlungen in Idlib die Nichteinhaltung der Verpflichtungen aus dem Sotschi-Abkommen vom 17. September 2018 genannt. Aus den Erklärungen, die während der Intensivierung des Konflikts im Februar abgegeben wurden, ist deutlich geworden, dass Erdogan und Putin unterschiedliche Auffassungen zu diesem Abkommen hatten.
Unterschiedliche Interpretationen des Abkommens
Auch bei dem zuletzt in Moskau vereinbarten Abkommen ist es nicht anders. Weder die von Erdogan und Putin nach ihrem Treffen abgegebenen Erklärungen noch der unterzeichnete Text konnten diese Verworrenheit beheben. Dadurch bestätigt sich, dass der erzielte Waffenstillstand am seidenen Faden hängt.
So erklärte Erdogan, dass sich die Türkei das Recht vorbehält, jeden Angriff des syrischen Regimes zu erwidern. Diese Äußerung gibt einen Anhaltspunkt auf die mögliche Lebensdauer des Waffenstillstands. Seine Feststellung, dass ein „neuer Status in Idlib“ unausweichlich ist, deutet auf seine eigentliche Absicht hin.
Putin hingegen erklärte: „Unser Vorgehen basiert auf dem Grundsatz, die Souveränität und territoriale Gesamtheit Syriens zu schützen.“ Damit erteilte er Erdogans Absicht auf einen neuen Status Idlibs eine klare Absage und fuhr fort: „Außerdem sind wir sicher, dass eine Schwächung des Kampfes gegen den internationalen Terror nicht zugelassen werden darf.“ Auch diese Bemerkung lässt Rückschlüsse auf die Dauer des Waffenstillstands ziehen.
Waffenstillstand von voraussichtlich kurzer Dauer
Ebenso zeigt der vom russischen Außenminister Sergej Lawrow und seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu verlesene Text des Abkommens, dass der Waffenstillstand nicht lange halten wird. Die in dem Text betonten Stellen zur Aufrechterhaltung des Sotschi-Abkommens von 2018, der territorialen Gesamtheit und Souveränität Syriens und zur Entschlossenheit, „alle Erscheinungsformen des Terrorismus“ einschließlich der vom UN-Sicherheitsrat als terroristisch definierten Gruppen zu bekämpfen, stehen im vollständigen Widerspruch zu Erdogans Forderung nach einem „neuen Status“ für Idlib.
Das geschlossene Abkommen sorgt lediglich sowohl für Russland als auch für die Türkei für eine kurze Atempause. Die Kampfhandlungen mögen dadurch kurzfristig unterbrochen worden sein, aber die in dem Moskauer Abkommen enthaltenen Artikel lassen unterschiedliche Interpretationen und damit ein erneutes Aufflammen der Kämpfe zu.
Der von der Türkei geforderte Rückzug der syrischen Armee hinter die türkischen Beobachtungspunkte bis Ende Februar ist ein unerfüllter Traum geblieben. In dem Abkommen wird nicht nur der Rückzug nicht erwähnt, auch von den vom Regime kontrollierten Siedlungsgebieten wie Maaret al-Numan, Saraqib, Anedan und Haritan ist nicht die Rede, sie gelten als „ohnehin gewonnenes Recht“.
Die M5 wird nicht erwähnt, weil sie mit Brachialgewalt erobert worden ist. Die bergige und schwierige Region Dschisr asch-Schughur an der M4-Route ist sozusagen am Verhandlungstisch eingenommen worden. Gruppen wie die Islampartei Turkistan, Hurras al-Din und Acnad Kafkas sollen aus der Region vertrieben werden. Dafür soll die Türkei sorgen, sofern sie dazu in der Lage ist.
Wenn im Norden und Süden der M4 ein jeweils sechs Kilometer breiter Streifen als Korridor eingerichtet wird, verkleinert sich das Gebiet, das im Süden der Straße von Dschihadisten gehalten wird.
Gleichzeitig hat sich geklärt, dass sich die Hoffnung, die die Türkei in die NATO und die USA setzt, nicht erfüllen wird, solange sie keinen konkreten Schritt unternimmt bezüglich der mit Russland getroffenen militärischen Abkommen, insbesondere zum S400-Raktensystem, beziehungsweise sich daraus zurückzieht.
Der türkische Staat hat ein weiteres Mal erfahren, dass er allein nichts gegen Russland ausrichten kann. Selbst die Vergeltung für die getöteten türkischen Soldaten war nur mit russischer Genehmigung und der teilweisen Öffnung des Luftraums über Idlib möglich.
Die Türkei musste auch erleben, dass die von ihr gespielte „Flüchtlingskarte“ zu so großem Unmut geführt hat, dass Europa endlich genug davon hat. Sie hat die Schutzsuchenden benutzt, um militärische Unterstützung gegen Russland in Idlib und Geld aus Europa zu bekommen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die durch den Brexit geschwächte EU neue Wege sucht und nicht so leicht in einen Krieg eintreten wird. Es besteht allerdings noch Hoffnung für die Türkei, dass sich Geld erpressen lässt.
Russland hingegen hat im Einklang mit seiner generellen Strategie eine taktische Offensive gegen eine mögliche Teilintervention der NATO und der USA gefahren. Das ist alles.
Darüber hinaus ist in dem Abkommen nicht der Begriff „Waffenstillstand“ verwendet worden, sondern der Ausdruck „Beendigung jeder militärischen Aktivität“. Das beinhaltet Aufklärung, Kriegsvorbereitung, Truppenkonzentration und Militärtransporte. Es handelt sich also um einen sehr viel breiter gefassten Begriff, der sich dazu anbietet, das Waffenstillstandsabkommen zu brechen.
Verschiedene Perspektiven der Vertragspartner
Nach den stattgefundenen Gefechten, den Toten, dem Kriegsgebrüll, den Forderungen nach einem Termin in Moskau, dem Gespräch zu Füßen von Katharina der Großen, dem Gerenne auf ein Handzeichen Putins, um ihm die Hand zu schütteln, der tiefen Verbeugung des türkischen Geheimdienstchefs Hakan Fidan vor Putin und einem insgesamt fünf Stunden und vierzig Minuten dauernden Treffen sind drei klare Sätze herausgekommen:
1.) Erdogan: „Die Entstehung eines neuen Status in Idlib ist unausweichlich geworden.“
2.) Putin: „Wir sind sicher, dass der Kampf gegen den internationalen Terror nicht geschwächt werden darf.“
3.) Abkommen: „Erneuerung der Entschlossenheit, dass alle vom UN-Sicherheitsrat als terroristisch definierten Gruppen verschwinden müssen.“
Geht es Erdogan um ein zweites Hatay?
Diese drei Sätze legen nahe, dass der Waffenstillstand in Idlib nicht lange halten wird. Russland betrachtet fast alle Gruppen in Idlib als terroristisch und letztendlich werden auch die UN gegen die in ihrer Terrorliste aufgeführte Hayat Tahrir al-Sham und ihre Mitgliedsgruppen vorgehen.
Was Erdogan mit seiner Forderung nach einem neuen Status für Idlib vorschwebt, ist die Aufrechterhaltung seines Einflusses in der Region. Wenn er Idlib nicht vollständig halten kann, will er zumindest einen Teil des Gebiets einschließlich Efrîn, Azaz, Dscharablus und al-Bab in der Hand behalten und die Region wie ein zweites Hatay an sich binden.