Koçer: Die AANES verfolgt einen strategischen Ansatz

Einer der wichtigsten Grundsätze der nordostsyrischen Autonomiebehörde ist der Schutz der Einheit und der territorialen Integrität Syriens. Der AANES-Vertreter Hesen Koçer erläutert die jüngsten Entwicklungen in der Syrien-Krise.

In Syrien besteht seit 2011 eine politische Krise. Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) hat in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, einen Dialog mit der Regierung in Damaskus für den Aufbau eines demokratischen Systems für alle Bevölkerungsgruppen aufzunehmen. Einer dieser Schritte war eine aus acht Punkten bestehende Deklaration, die am 18. April veröffentlicht wurde, um Fortschritte auf dem Weg zu einer friedlichen und demokratischen Lösung in Syrien zu erzielen.

Hesen Koçer, stellvertretender Ko-Vorsitzender des Exekutivrates der AANES hat sich im ANF-Interview dazu geäußert.


Welche Ziele verfolgen Sie mit der von Ihnen veröffentlichten Erklärung?

Das Hauptziel der von uns veröffentlichten Erklärung ist eine Lösung der seit zwölf Jahren andauernden Syrien-Krise. Wir wollen die Probleme in Syrien mit politischen Mitteln lösen. Das ist unser grundlegendes Ziel. Als Autonomiebehörde haben wir allen Kräften mitgeteilt, dass wir die Krise in Syrien mit Syrien lösen wollen. Einer der Grundsätze der Autonomiebehörde, und zwar der wichtigste, ist die Verteidigung und der Schutz der Einheit, der Souveränität und der territorialen Integrität Syriens. Seit der Ausrufung der Autonomieverwaltung hat unser Ziel immer in dieser Richtung gelegen. Wir haben immer wieder betont, dass die Krise in Syrien nicht mit militärischen Methoden gelöst werden kann. Die Methode der militärischen Lösung verstärkt Massaker, Verfolgung und Unterdrückung und führt zu einer Verschärfung der Krise.

Gespräche wie in Astana und Genf, die zur Lösung der syrischen Krise abgehalten wurden, haben zu keiner Lösung geführt, denn der Wille des syrischen Volkes steht bei diesen Treffen nicht zur Debatte. Außerdem sind die demokratischen Kräfte und die AANES nicht an diesen Gesprächen beteiligt, es kommen Vertreter von Staaten dabei zusammen. Es handelt sich um Treffen, die im Interesse der Staaten stattfinden. Auch die Gipfeltreffen von Syrien, Russland, Iran und Türkei können die syrische Krise nicht lösen. Diese Vierertreffen stehen im Einklang mit den Interessen dieser Staaten und nicht mit denen des syrischen Volkes. Das Hauptziel der Vierergespräche in letzter Zeit ist nicht die Lösung der Krise in Syrien, sondern deren Verwaltung. Sie dienen einer weiteren Verschärfung der syrischen Krise und der Zerstörung Syriens.

Wozu die Astana-Gespräche geführt haben, ist offensichtlich. Nach jedem Treffen wurde ein weiterer Teil Syriens besetzt und die Demografie verändert. Kurzum, es wurden Kriegsverbrechen begangen. Mit diesen Gesprächen wurde die territoriale Integrität Syriens zerstört. Alle Astana-Treffen waren Ausdruck der Feindseligkeit gegenüber dem syrischen Volk und haben die Krise verschärft. Es wird nicht über eine Lösung gesprochen, es handelt sich um Sicherheitsgespräche. Die syrische Krise ist jedoch keine Sicherheitskrise, sondern ein politisches und nationales Demokratieproblem, ein Problem der Selbstverwaltung des Volkes. Die Türkei behauptet im Zusammenhang mit der kurdischen Frage, ihre nationale Sicherheit zu schützen. Der Iran hingegen vertritt den Standpunkt, dass der Krieg nicht an seine Grenzen gelangen sollte. Russland wiederum will seine Politik im Einklang mit dem Krieg mit der Ukraine fortsetzen. Syrien nimmt an diesen Treffen teil, um seine Macht zu schützen.

Können Sie Ihre Erklärung zur Lösung des Problems Artikel für Artikel erläutern?

Der erste Artikel betrifft die territoriale Integrität Syriens. Als Autonomiebehörde haben wir die Aufgabe und Verantwortung, die territoriale Integrität Syriens zu schützen, zu verteidigen und darauf zu bestehen. Wir haben eine historische Verantwortung gegenüber den drusischen, alawitischen und sunnitischen Glaubensgemeinschaften sowie den kurdischen, arabischen, assyrischen und armenischen Völkern. Wir sind gegen Krieg und Konflikte zwischen den Völkern. Wir wollen die Krise in Syrien im Sinne der Einheit und Integrität der Völker lösen. Unser zweiter Punkt ist, dass Syrien seinen egozentrischen Ansatz vollständig aufgeben sollte. Syrien kann sich nicht länger von einem zentralistischen System leiten lassen. Es muss ein demokratisches politisch-administratives System auf der Grundlage dezentralisierter lokaler Verwaltungen geschaffen werden.

Und der dritte Punkt... Viele Leute kritisieren die Autonomieverwaltung. Sie behaupten, dass wir den Zerfall Syriens wollen. Unsere Grundsätze waren von Anfang an klar, und wir haben in unserem Fahrplan nachdrücklich betont, dass wir für die Einheit Syriens eintreten. Unser Ziel ist nicht der Zerfall Syriens, sondern eine Lösung der syrischen Krise unter Wahrung der territorialen Integrität Syriens. Einige Gruppen bezeichnen uns als amerikanische Agenten. Auf diese Weise wollen sie die Autonomiebehörde mit einem Stigma belegen und machen diese Art von Anti-Propaganda gegen uns. Wir weisen nachdrücklich und deutlich darauf hin, dass die wirtschaftlichen Gewinne in unserer Region dem syrischen Volk gehören. Auch die wirtschaftlichen Gewinne in anderen syrischen Regionen gehören der Bevölkerung. Wir sind für eine gerechte Verteilung dieser Gewinne an das syrische Volk. Wir sind nicht dafür, einige Völker ohne Anteil zu lassen. Auch dies ist einer unserer Grundsätze. Die Erklärung, die wir abgegeben haben, ist keine Taktik, die wir gegen den syrischen Staat entwickelt haben. Vom ersten Tag an haben wir uns für die Einheit Syriens eingesetzt und darauf bestanden, dass die Völker in Wohlstand leben.

In letzter Zeit haben auch die arabischen Länder die Gespräche mit Syrien intensiviert. Wie bewerten Sie das?

Syrien hat insbesondere nach dem Erdbeben vom 6. Februar mehrere Treffen mit arabischen Ländern abgehalten, um seine Beziehungen zu ihnen zu stärken und zur Situation vor 2011 zurückzukehren. Wir sind nicht dagegen, dass Syrien der Arabischen Liga wieder beitritt. Allerdings fordern wir die arabischen Länder auf, die Krise in Syrien nicht auf Kosten des syrischen Volkes und des syrischen Territoriums zu lösen. Das ist die Pflicht der arabischen Gemeinschaft. Wir wollen das auch und haben es bereits früher zum Ausdruck gebracht. Wir haben unsere Bereitschaft, diese Krise gemeinsam mit Syrien zu lösen, mehrfach zum Ausdruck gebracht, und wir stehen heute zu unserer Position. Die Haltung Syriens, dass die Türkei syrisches Territorium verlassen sollte, ist richtig und angemessen. Diese Haltung sollte nicht in Vergessenheit geraten, ganz gleich, welche Art von Gesprächen geführt werden. Denn wenn Syrien diese Haltung aufgibt, wird seine nationale Integrität zum Gegenstand von Debatten, und damit tritt es einen Teil seines Territoriums an ein anderes Land ab. Sein Patriotismus, seine Nationalität und seine Politik werden zur Debatte stehen. Aus diesem Grund unterstützen wir die Haltung Syriens, die Türkei aus dem syrischen Hoheitsgebiet zu entfernen. Eines der vorrangigen Ziele der Autonomiebehörde ist der Rückzug der Türkei aus dem syrischen Staatsgebiet, denn die Türkei ist der Grund für die Verschärfung der Krise in Syrien. Es ist der türkische Staat, der den IS auf syrisches Territorium brachte und damit Chaos und Verwirrung verursacht hat, die syrische Revolution entgleisen ließ, Syrien ausgeplündert und zerstört hat. Alle sollten diese Realität sehen und sich dessen bewusst sein. Daher bedeutet der Rückzug des türkischen Staates aus dem syrischen Hoheitsgebiet, dass sich die Krise in Syrien auf eine Lösung zubewegt. Die Mentalität des türkischen Staates entspricht der Logik, Völker zu liquidieren und sie dem Völkermord zu überlassen.

Was steckt hinter den Gesprächen zwischen Ankara und Damaskus?

Vor den Wahlen am 14. Mai in der Türkei will Ankara Syrien zu einem Vermittler machen. Ankara sieht die Annäherung an Syrien auch als Möglichkeit, Stimmen zu gewinnen. Über die aus Syrien zugewanderten Menschen und die Beziehungen zu Syrien soll die eigene Macht ausgebaut werden. Die Stämme und unsere Leute hier sollten mit den aus Syrien in die Türkei migrierten Menschen in Kontakt treten und ihnen sagen, dass sie nicht für das Erdoğan-Regime stimmen sollen. Denn die Politik von Erdoğan ist eine Politik des Krieges und der Liquidierung der Kulturen der Völker. Es sollte für Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit gestimmt werden. Eine Stimme für Erdoğan ist eine Stimme für den Krieg. Diese Wahlen werden über das Schicksal der Völker entscheiden und sich auch auf Syrien auswirken. Der Zusammenbruch des AKP/MHP-Regimes wird auch die Richtung der syrischen Krise ändern.