Internationalist Agir: „Die Revolution ist unumkehrbar“

Agir ist einer der vielen Internationalist:innen, die sich der Revolution von Rojava angeschlossen haben. Er ruft zur gemeinsamen Organisierung auf, um die Zerstörung der Welt durch die kapitalistische Moderne abzuwenden.

Mit der Revolution von Rojava zeigte sich mitten im Nahen Osten eine Alternative zur kapitalistischen Moderne, die auch vielen Menschen in den kapitalistischen Metropolen Hoffnung schenkte. Seit Beginn der Revolution schlossen sich Hunderte Internationalist:innen dem Kampf in Rojava an, machten dort ihre Erfahrungen mit Radikaldemokratie in gesellschaftlicher Praxis und riskierten oder gaben ihr Leben bei der Verteidigung der Revolution. Einer dieser internationalistischen Revolutionär:innen in Rojava ist Agir aus Lateinamerika. Im ANF-Interview spricht er über die Situation in Rojava, seine Motivation und die Perspektiven der Revolution

Könntest Du dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Agir und ich komme aus den Amerikas. Ich bin zu YPG-International gekommen, um den Kampf gegen den IS und zur Verteidigung der Demokratie im Nahen Osten zu verstehen.

Wie hast Du von Rojava erfahren?

Ich hörte zum ersten Mal während des Kobanê-Krieges von Rojava und verfolgte in den Nachrichten die Entwicklung der Kämpfe gegen den IS. So habe ich langsam verstanden, was passiert ist und wofür die YPG und YPJ kämpfen.

Was sind Deine Eindrücke, nachdem Du hierhergekommen bist?

In meiner Zeit hier habe ich ein besseres Verständnis für die Situation vor Ort entwickelt, wie die Menschen hier leben und was es bedeutet, hier zu sein, was von außen nur sehr schwer zu verstehen ist. Es gibt viele Probleme, vor allem im Hinblick auf die Bedingungen und den Bedarf, die durch den Krieg entstanden sind. Diese stehen der Entwicklung im Weg. Der größte Teil des Budgets der Selbstverwaltung fließt in den Krieg. Dies ist ein Problem, das von der internationalen Gemeinschaft angegangen werden muss. Die offizielle Anerkennung der Selbstverwaltung, die Beendigung der terroristischen Angriffe und Drohungen und die Ausrufung einer Flugverbotszone könnten zu Stabilität und Frieden beitragen. Es ist aber auch an der Zeit, dass alle Länder ihre in der Region inhaftierten IS-Mitglieder zurücknehmen, damit sie verurteilt werden können. Und trotz alledem, trotz der Tatsache, dass Veränderungen Zeit brauchen, hat die Gesellschaft von Nord- und Ostsyrien in nur zehn Jahren einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wir sind daran gewöhnt, dass der Nahe Osten von inneren Spaltungen zwischen Stämmen, ethnischen Gruppen und Religionen zerfressen ist; aber hier geht die Tendenz in die entgegengesetzte Richtung, und wir sehen, dass Toleranz und Integration konkret erreicht werden können, wenn man es will. Wir sind es gewohnt, schreckliche Statistiken über Gewalt und Ungleichheit gegen Frauen zu hören, aber auch wenn hier die Geschlechterfrage noch lange nicht endgültig überwunden ist, nehmen mehr Frauen den Platz ein, den sie in der Gesellschaft haben wollen – das gilt für die Kultur, die Politik, die militärischen Kräfte, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Medizin, den Sport usw.; und wenn ich sage, dass sie ihren Platz einnehmen, dann meine ich nicht, dass sie sich in ein bestehendes patriarchales System integrieren, sondern dass sie ihre eigenen Strukturen schaffen. Das stellt einen gewaltigen Unterschied dar und hat eine unvorstellbare Auswirkung, nicht nur auf Frauen, sondern ich glaube, auch auf Männer. Wenn wir die Angst vor der Autonomie und Freiheit der Frauen verlieren, kann das auch unsere eigenen Möglichkeiten der Freiheit erhöhen.

Was denkst Du über die Ideologie von Rojava?

Ich denke, dass die Ideen von Rojava in diesem Moment für den Nahen Osten, aber auch ganz allgemein für die ganze Welt sehr notwendig und wichtig sind. Ein echtes demokratisches System anzustreben, das von der Basis des Volkes ausgeht und alle ethnischen Gruppen und Religionen einbezieht – und nicht unter der falschen Flagge des Multikulturalismus assimiliert –, die Befreiung und Autonomie der Frau sowie die Suche nach einer anderen Art von Männlichkeit und der Ansatz, ein ökologisches Gleichgewicht mit der Erde anzustreben, sind Tatsachen hier, die meinem Herkunftsland und mir selbst zutiefst aus dem Herzen sprechen.

Wie bewertest Du in diesem Zusammenhand die Bedeutung von Abdullah Öcalans Ideologie?

Abdullah Öcalan sagte einmal, dass Kurdistan wie ein Reaktor für den globalen Wandel sein kann. Und das ist wirklich wahr, vor allem wenn wir an all die Tausenden von Menschen denken, die von allen Kontinenten nach Rojava gekommen sind. Bis jetzt haben wir gesehen, wie Rojava die Welt gegen den IS verteidigt hat und wie die Welt Rojava wahrgenommen hat. Jetzt ist es an der Zeit, dass sich diese Erfahrung ausweitet und in der ganzen Welt verbreitet wird. Ich glaube, dass wir an Erfahrung gewinnen und besser verstehen, wie dieser Prozess realisiert werden kann. So wird dieser Prozess Schritt für Schritt stärker und beständiger werden. Der Wert des Paradigmas Öcalans liegt meines Erachtens darin, den Weg, den er uns zeigt, weiterzugehen, ihn mit anderen, parallel verlaufenden Wegen zu kreuzen, seine Ideen nicht nur als intellektuelles Gespräch mit anderen zu verbreiten, sondern sie in eine kollektive Dimension zu stellen.

Was sagen die Menschen in deinem Herkunftsland zur Verschleppung Öcalans?

Ich denke, dass wir nicht viel direkt tun können, um Druck für die Freiheit von Herrn Öcalan auszuüben und einen Friedensprozess in Kurdistan zu unterstützen. Wir sind nicht nur geographisch sehr weit weg, sondern auch geopolitisch an der Peripherie angesiedelt. Wenn man aber die Stimme Öcalans und der Kurdinnen und Kurden zum Schweigen bringen möchte, dann können wir nicht untätig bleiben und müssen unser Bestes tun, um diese Stimme zu vervielfältigen, um den strukturellen Grund für seine Inhaftierung zu beseitigen.

Welche Bedeutung hat für Dich der 9. Oktober?

Nun, zunächst einmal ist der 9. Oktober der Tag, an dem Che Guevara ermordet wurde. Trotz seines physischen Todes ist er ein unsterbliches Beispiel, das bis heute eine wichtige Referenz für alle Menschen ist, die an Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie glauben und sich gegen Tyrannei, Bürokratismus und jede Form von Unterdrückung stellen. Dieser Tag ist wichtig für ganz Lateinamerika und die anderen armen Länder. Er markiert jedoch auch den Beginn des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan. In diesem Sinne ist es wichtig, nie zu vergessen, dass alles global verknüpft ist. Aber natürlich müssen wir diese Ereignisse auch mit dem zunehmenden Einfluss von Öcalans Denken an vielen Orten der Welt in Zusammenhang bringen. Es handelt sich um eine Alternative, die für viele Menschen wächst, vor dem Hintergrund, dass die Welt innerhalb von Jahrzehnten unterzugehen scheint. Dieses Datum ist also ein Aufruf an alle, nicht nur zu versuchen, die Ideen von Öcalan und anderen Gleichgesinnten wie Murray Bookchin zu verstehen, sondern auch mehr zu tun und das Paradigma für eine neue und nachhaltige Welt weiterzuentwickeln. Der 9. Oktober sollte der Tag der Suche der marginalisierten Gruppen nach einem freien Leben sein. An diesem Tag im Jahr 2019 begann auch die Offensive gegen Serêkaniyê und Girê Spî, die zu einem kurzen, aber schweren zehntägigen Krieg führte. Internationalist:innen setzten damals ein Zeichen der Solidarität und der Beteiligung vor Ort, dabei gab der deutsche Internationalist Andok Cotkar sein Leben.

Möchtest Du noch etwas anfügen?

Ich möchte allen, die dies lesen, eine große Umarmung schicken und hoffe, dass auch wenn ich nichts Wichtiges oder Neues gesagt habe, etwas von dem, was ich vermitteln wollte, inmitten der Informationsüberflutung, die wir in unseren Tagen erleben, hängen bleibt. Ich möchte auch das Andenken an all die Menschen ehren, die ihr Leben geopfert haben, um eine bessere Welt zu schaffen, und dass wir unser Engagement stärken müssen, damit es nicht umsonst gewesen ist. Wir leben in einer Zeit, in der es so aussieht, als sei der Krieg permanent und unser Schicksal, als sei der Krieg unsere unausweichliche Realität. Dass Tod und Elend unsere Natur, unsere Geschichte sind. Aber Krieg ist eine große Verschwendung. Eine Verschwendung von Leben, von Ressourcen, von Intelligenz, von Zeit ... eine Verschwendung von allem. Und wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Menschheit nicht mehr in der Lage sein wird, in dieser Welt weiterzuleben, wenn sich der Kurs, den wir in den letzten Jahrtausenden eingeschlagen haben, nicht grundlegend ändert. Wir sollten also die Angst verlieren und wenigstens versuchen, gemeinsam etwas zu tun.