Am 23. Oktober 1998 wurde Andrea Wolf gemeinsam mit mindestens 24 weiteren Kämpferinnen und Kämpfern der kurdischen Guerilla bei einem Massaker der türkischen Armee in Şax (tr. Çatak) ermordet. Die Internationalistin mit dem kurdischen Namen Ronahî gehörte der Frauenguerilla YAJK an, wurde mit mindestens zwei weiteren Kämpfern lebend gefangen genommen, gefoltert, misshandelt und extralegal hingerichtet, ein klares Verbrechen laut Genfer Konvention. Anschließend wurden ihre Leichen weiter misshandelt und verstümmelt.
Zu Andrea Wolf und den bis zu 41 Menschen, die in diesen Oktober-Tagen vor 24 Jahren in den Bergen der Provinz Wan ermordet wurden, kommen tausende weitere dazu, die in Kurdistan von der türkischen Armee gefoltert, verschwunden gelassen, getötet worden sind.
„Ich würde mir wünschen, dass es in den Metropolen Bewegungen gäbe, die diesen Krieg angreifen, unmöglich machen. Einfach den Nachschub kappen. Ich weiß, es ist angesichts des Zustands in den Metropolen utopisch. Auch auf längere Sicht wird es so bleiben. Schade, das wäre was. Eine militante Bewegung, die die Kriegsmaschine lahmlegt.“
Diese Sätze schrieb Andrea Wolf am 1. Mai 1997 in den Bergen Kurdistans in ihr Tagebuch. Ihr Wunsch ging nicht mehr in Erfüllung in jenen 1990er Jahren, aber er ist heute aktueller denn je. Aus Anlass ihres 24. Todestages veröffentlichen wir einen Text des Internationalisten und langjährigen Freundes Sîpan, der 2018 erstmals im Kurdistan-Report erschien:
Wie schön für uns, dich unter den Freund:innen in den Bergen begrüßen zu dürfen ...
Ich weiß noch, wie es mich gefreut hat: Wir sprachen über unsere Politisierung. Mich hatte 1981 das Manifest „Freizeit 81“ fasziniert. Endlich mal ein stimmiger und wahrhaftiger Begriff von NO FUTURE: Keine Zukunft in diesem System! Und du gabst dich zu erkennen als jemand, die an diesem Manifest beteiligt war. Wie schön! Schade, dass wir uns nicht damals schon getroffen hatten.
Dieses Gefühl hatte ich oft in Situationen mit dir: Da ist jemand, sehr präsent, immer unglaublich viele Möglichkeiten im Kopf.
Ronahî und Sîpan in den Bergen Kurdistans | Foto: ISKU
Und die leuchtenden Augen, wenn du von gelungenen Aktionen sprachst. Oder von deinen Begegnungen mit Abdullah Öcalan in der Partei-Akademie: endlich ein Mann, dem du Vertrauen schenken konntest, der nicht dein Cowboy sein wollte und sollte, dein Chef, sondern der an der Seite der Menschen und vor allem der Frauen steht, der jeder und jedem helfen will, Perspektiven zu erkennen und zu entwickeln.
Aber jetzt bin ich voller Freude und frohen Herzens ...
sagtest du nach deiner Entscheidung, dich auf den Weg in die Berge Kurdistans zu machen, dich in der PKK mit den vielen Internationalist:innen auseinanderzusetzen, auszutauschen und Pläne zu schmieden. Was für eine gute und schöne Entscheidung.
Zuvor hattest du uns kritisiert, dass wir hier, im Herzen der Bestie, wo so vieles, fast alles, zusammengebrochen schien, niemand so wirklich wusste, wie es weitergehen könnte ... also dass wir hier fehlen würden, um mit allen zur Verfügung stehenden Menschen Neues-Lebendiges-Kämpferisches-Zuversichtliches aufzubauen. Und dann die Gespräche, wo soll das Neue herkommen? Aus uns heraus? Woraus sonst? Und was haben wir alles ausprobiert und was ist draus geworden und woran lag das und überhaupt? Und warum kriegen wir die Fragen nicht richtig zu fassen? Oder gar Antworten? Wir sind so verfangen in diesem System, so sehr Teil dieser Scheiße, verseucht von Konkurrenz, patriarchalen Verstrickungen, Unsicherheit ... Ja, aber wir brauchen hier jede und jeden! Dein Strahlen in den Gesprächen, deine Offenherzigkeit und fühlbare innere Teilnahme an jeder und jedem Einzelnen, die Ernsthaftigkeit und Wärme, das Ringen um mehr Klarheit. Und das war das Schöne: Es ging in den Gesprächen nie darum, Positionen durchzusetzen, sondern immer darum, die Spur der Möglichkeiten aufzunehmen, auf der wir vielleicht Neues erreichen können: Du hattest die Fähigkeit, andere dazu zu bringen, wieder mehr auf die Funken Hoffnung zu schauen als auf die Schmerzen der Niederlagen.
Und die Zeiten waren schwer: Verrat, Verfolgung, Verhaftungen, Mord, Verzagtheit, Engstirnigkeit, Rückzug, Ratlosigkeit ... Wer wollte denn unter diesen Bedingungen vorwärtsgehen, wer hatte sich das zugetraut? Du. Weil: Was sonst?! Egal wie die Schwierigkeiten aussehen. Dann müssen wir eben beim Gehen gehen lernen. Mit all deinen Selbstzweifeln, und dem häufigen Gefühl, allein dem Ganzen gegenüberzustehen: Nicht verzweifeln – Genossinnen suchen, und Genossen.
Wenn wir aber Internationalist:innen sind ...
Als wir dich dann endlich wiedersahen, nach dem Sport- und Schwimmunterricht, den du den Freundinnen gegeben hast: Was für eine Freude.
Nun, wir mussten erfahren, dass du kurz nach unserer Abreise in die Berge dazu gezwungen wurdest, dich dem Zugriff des Staates zu entziehen. Wieder Verrat, Verfolgung, du wurdest weitgehend abgeschnitten von den Genoss:innen. Wie schwer für dich.
Und wie schön für uns, dich unter den Freund:innen in den Bergen begrüßen zu dürfen, ausgerüstet mit Neugier, Zeit und Raum für Diskussionen.
Du hattest in deinem Schreiben an die Bewegung u. a. geschrieben: „Mein Begriff von Internationalismus hat sich neu gestaltet. Bisher ist er von einer schematischen Reihenfolge ausgegangen: erst hier eine Bewegung aufbauen, und dann mit anderen. Wenn wir aber InternationalistInnen sind, können und müssen wir beides gleichzeitig machen. Und wir können an einem Kampf auf einem anderen Teil der Erde teilnehmen, um zu lernen, weil unser Horizont nicht an unseren eigenen nationalen Grenzen aufhört. Zumal wir als Metropolenmenschen unsere Situation nur wirklich verstehen können, wenn wir uns mit Augen von außerhalb betrachten.“¹
1997: Andrea Wolf wird von Abdullah Öcalan aus der zentralen Parteischule in Damaskus in die Berge Nordkurdistans verabschiedet | Foto: Serxwebûn / ANF
... was wird uns die Zukunft bringen
Wir haben uns dann auch viel Zeit nehmen können, uns genau darüber auszutauschen und auseinanderzusetzen: Was sind unsere Erfahrungen, was waren unsere Erwartungen, was wollen wir damit machen, zurück in Europa, was können wir damit machen, im Herzen der Bestie ...
Wie kann Bewegung in den Metropolen aussehen, wie kann »gemeinsam kämpfen« aussehen und gestaltet werden, was können wir, was brauchen wir noch alles ... Die sich aus den Fragen ergebenden Fragen schienen ins Unermessliche zu gehen und immer größer zu werden. Aber du warst ja da, mit deinem Elan, deinem Optimismus und deiner Zuversicht. Deiner Lebensfreude. Und der Neugier: Was wird die Zukunft uns bringen, jetzt, wo wir den Schlüssel schmieden, um ihn zu benutzen? Deine Begeisterung darüber, die PKK kennenzulernen, in der Frauenarmee organisiert zu sein, endlich eine Bewegung und Menschen getroffen zu haben, die ernsthaft an der Frage gesellschaftlicher Veränderung – und damit der eigenen – arbeiten. Eine Bewegung, die die älteste und stärkste Unterdrückung besiegen und überwinden will, die die Frage der Befreiung der Frau, der Befreiung der Menschen von ihren patriarchal bestimmten Rollen angeht und organisiert. Was für Freiräume dadurch geschaffen werden, welche Energien bei den Einzelnen dadurch freigesetzt werden, wie sehr Selbstbewusstsein dadurch gestärkt bzw. zum Teil erstmal entwickelt wird. Und wie wichtig es ist, diesen Prozess zu organisieren, Strukturen zu schaffen, die dafür sorgen, dass die Prinzipien eingehalten und geschützt werden. Damit Befreiungsprozesse nicht doch wieder nur eine weitere Variante des Alten werden. Du sahst dich als Teil des Versuchs, diese jahrtausendealte Erfahrung zu durchbrechen. Der Weg zur Freiheit.
Du warst noch nicht lange da, hattest noch sehr mit den schwierigen Bedingungen zu kämpfen (allein das Sprachproblem!) und wolltest noch so viel sehen, und dennoch warst du schwankend, ob du vielleicht doch mit uns wieder zurückkehrst, jetzt schon, in die Metropole, nach Deutschland und Europa. Denn es ist ja immer noch klar und wahr: Solange die imperialistischen Zentren nicht mit starken wirklich emanzipatorischen Bewegungen konfrontiert sind und weitgehend schalten und walten können, wie sie wollen, so lange werden die Wege zur Befreiung sehr verletzbar bleiben.
Wir hatten dann gemeinsam entschieden, und du wolltest zunächst in den Bergen bleiben, um die Prozesse dort besser kennenzulernen, tiefer einzutauchen.
Und dann, etwas mehr als ein Jahr später, dieser schreckliche Anruf: Andrea ist ermordet worden, die Freundin ist tot.
Was wäre alles gewesen, hätten wir dich bei uns gehabt. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß: Unser Leben wäre reicher gewesen mit dir.
[1] - Zitiert nach: Leben und Kampf von Andrea Wolf, 1999, bestellbar bei [email protected]