Girê Spî: Entwicklung durch Selbstverwaltung

Der Ko-Vorsitzende des Kantonsrats von Girê Spî, Hamid al-Abid, berichtet über den Aufbau der Selbstverwaltung und die aktuelle Lage in Girê Spî.

Die nordsyrische Stadt Girê Spî (Tall Abyad) wurde am 15. Juni 2015 aus den Händen der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) befreit. Die Nachrichtenagentur ANHA hat mit Hamid al-Abid über die Entwicklungen der vergangenen vier Jahre in der Stadt und dem Kanton gesprochen.

Was ist der Unterschied zwischen den selbstverwalteten Gebieten und den anderen Teilen Syriens?

Das ist offensichtlich. Die Entwicklungen und die Sicherheitslage in den Gebieten der Selbstverwaltung und insbesondere in Girê Spî liegen auf der Hand. Der Unterschied zu den Gebieten unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen, der sogenannten „FSA“, und unserer Region ist ebenfalls glasklar. Das eine sind Regionen, in denen die Milizen mit der Mentalität von kriminellen Banden vorgehen, Angst verbreiten, jeden Tag Bomben explodieren, das andere sind Gebiete, die von einer legitimen Kraft geschützt werden. Das sehen und erleben alle.

Der Aufbau und die Aktivitäten der Sicherheitskräfte in unserer Region bedeuten jedoch nicht, dass es hier nicht auch Sicherheitsprobleme gibt. Sie sind allerdings sehr gering. Im Allgemeinen gibt es Versuche, die Sicherheit der Region zu erschüttern und Zwietracht zwischen den Völkern der Region zu säen. Wir sind ja immer noch im Krieg. Wir können sagen, dass es nicht gerecht wäre, die Gebiete unter der Besatzung des türkischen Staates oder unter Kontrolle des Regimes mit unseren Gebieten zu vergleichen. Dort ist die Sicherheitslage für die Bevölkerung viel schlechter als zuvor, dort herrschen Verteuerung und Versorgungsengpässe. Auch die Form der Verwaltung lässt sich kaum vergleichen.

Hamid al-Abid

Wir kam es zu Gründung der Selbstverwaltung von Girê Spî?

Seit dem Beginn der Syrienkrise haben der Islamische Staat (IS), und vorher unter anderem Namen, verschiedene dschihadistische Gruppen für Chaos und Leid im Kanton gesorgt. Der Ansatz der autonomen Selbstverwaltung stellte die beste alternative Verwaltungsform für unsere vom Leid gezeichnete Bevölkerung dar.

Es wurde eine Verwaltung aus Kurd*innen, Araber*innen, Turkmen*innen und Armenier*innen, den Stammesführern und den Intellektuellen gebildet. Wir haben lokale Räte zur Organisierung der Selbstverwaltung aufgebaut. Wir haben auch einen Rat der meinungsbildenden Persönlichkeiten gebildet, um Probleme unter der Bevölkerung vorgerichtlich zu lösen.

Der entscheidende Schritt der vergangenen Jahre war die demokratische Wahl der Ko-Vorsitzenden der Kommunen, der kleinsten Einheit der Selbstverwaltung durch alle Elemente der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens. Danach hat unser Volk im Dezember 2017 die Leitung der Gemeinden, Städte und Kantone gewählt. Wenn man in Betracht zieht, dass währenddessen in den anderen Teilen Syriens ein durch Mächte von außen geschürter Krieg tobte, dann handelt es sich dabei wirklich um einen Schritt von historischer Bedeutung.

Was war die Rolle der Selbstverwaltung nach der Befreiung der Stadt?

Wir standen vor großen Hindernissen, der Zerstörung, den Anschlägen in der Stadt, den Drohungen. Uns wurde gesagt: „Ihr seid Verräter, ihr seid Ungläubige.“ Aber wir haben unsere Arbeit weitergemacht. Die Dienstleistungskomitees haben die Lage in der Stadt und in einem Dorf nach dem anderen verbessert. Die Straßen wurden repariert, die Krankenhäuser, Schulen und Moscheen restauriert und wiederaufgebaut.

Die Kräfte der inneren Sicherheit spielten eine wichtige Rolle dabei, dass es in Girê Spî so ist wie heute. Die Verkehrsverwaltung konnte die Zahl der Unfälle reduzieren. Im Moment bereiten wir die Reparatur von Brücken und des Wasserleitungssystems sowie ähnliche Projekte mit einem Budget von 500 Millionen syrischen Lira (etwa 860.000 Euro) vor.

Wie bewertet die autonome Selbstverwaltung von Girê Spî die Drohungen durch den türkischen Staat, und was ist die Haltung der internationalen Öffentlichkeit hierzu?

Wie schon immer respektieren wir auch heute all unsere Nachbarn und unterstützen einen dauerhaften Frieden. Die Türkei beschuldigt uns Terroristen zu sein. Aber wir haben den von der Türkei unterstützten Terror besiegt. Wie kann eine Kraft, die ihr Land und ihr Volk schützt, terroristisch sein?

Unsere Bevölkerung kennt die Politik der Türkei durch Drohungen, ihre Interessen durchzusetzen. Dieses Bewusstsein wird auch in den Aussagen der Politiker*innen und Stammesführern der Region immer wieder deutlich. Unsere Bevölkerung hat eine entschlossene Haltung an den Tag gelegt und in den vergangenen Jahren die ganze Zeit die Grenze verteidigt. Wir sind diesem Willen unseres Volkes verpflichtet.

Der türkische Staat hat internationales Recht verletzt und Dutzende Zivilist*innen an der Grenze umgebracht. Die Türkei hat die Gruppen unterstützt, die Kriegsverbrechen an unserem Volk verübt haben. Dennoch hat die internationale Gemeinschaft demgegenüber geschwiegen. Alle hier, junge Menschen, Frauen, haben hier an Stelle der ganzen Welt gegen den Terror gekämpft und waren erfolgreich. Dessen ist sich die internationale Gemeinschaft durchaus bewusst. Wenn wir, wie es die Türkei sagt, Terroristen sind, dann sind auch alle Mitgliedsstaaten der internationalen Koalition, die mit uns gemeinsam gegen den IS gekämpft haben, Terroristen.