Es besteht weiterhin akute Gefahr für Rojava
Der türkische Staat hat von Anfang an versucht, die Revolution von Rojava zu vernichten. Die akute Gefahr für die Region besteht weiter fort und ist gerade vor den Wahlen in der Türkei größer denn je.
Der türkische Staat hat von Anfang an versucht, die Revolution von Rojava zu vernichten. Die akute Gefahr für die Region besteht weiter fort und ist gerade vor den Wahlen in der Türkei größer denn je.
Der türkische Staat ist einer der entscheidenden Faktoren dafür gewesen, dass sich der Aufstand gegen das Assad-Regime in Syrien zu einem Massaker und einem blutigen Krieg entwickelte. Während der türkische Staat seine neosmanischen Interessen in Syrien verfolgte, machte vor allem die Revolution von Rojava vom 19. Juli 2012 einen Strich durch seine Rechnung. Seitdem setzt der türkische Staat alles ein, um diese Revolution zu vernichten. Als ersten Schritt wurden Gruppen wie al-Qaida in Syrien – Jabhat al Nusra – und andere Dschihadistenbanden zusammen mit kurdischen Kollaborateuren aus der Türkei nach Rojava geschleust, um die Revolution zu ersticken. Doch der Widerstand in Serêkaniyê (Ras al-Ain) war zu groß. Daraufhin begann der türkische Staat, den Islamischen Staat (IS) zu stärken und gleichzeitig ein Söldnerbündnis, die sogenannte „Syrische Nationalarmee“ (SNA), ins Leben zu rufen. Bei der SNA handelte es sich um ein Konglomerat aus rechtsextremen und dschihadistischen Gruppen wie Ahrar al-Sham, Faylaq al-Sham und anderen Al-Qaida-Ablegern, Proxys der Muslimbruderschaft oder der Grauen Wölfe. Als dies auch keinen Erfolg hatte, griff die türkische Armee am 24. August 2016 selbst ein.
Der Angriff begann mit al-Nusra
Der erste Angriff von al-Nusra richte sich gegen die selbstverwalteten Stadtviertel Şêxmeqsûd und Eşrefîye in Aleppo. Vom 25. bis 26. Oktober 2012 wurden mindestens 30 Kurd:innen ermordet. Zwischen dem 27. und 30. Oktober begannen Angriffe auf Dörfer bei Efrîn. Eine Woche später startete ein Angriff auf Serêkaniyê. Dabei drangen die Al-Nusra-Dschihadisten am 8. November 2012 über die türkische Grenze in Kaniya Xezalan (tr. Ceylanpınar) nach Serêkaniyê vor. Die türkische Armee hatte ihnen und kurdischen Kollaborateuren aus dem Umfeld der südkurdischen PDK die Grenze geöffnet. Das Konglomerat aus dschihadistischen Terrorgruppen und türkeitreuen Kollaborateuren verkündete eine Allianz gegen das Regime und versuchte so, die arabische Bevölkerung auf seine Seite zu ziehen. Gleichzeitig wurde in den besetzten Gebieten in Serêkaniyê ein Schreckensregime nach IS-Manier errichtet. Am 19. November folgte ein Angriff auf die kurdischen Stadtteile. Dabei wurde der Vorsitzende des Volksrats von Serêkaniyê, Ebid Xelîl, in einem Hinterhalt ermordet. Eine kleine Einheit von YPG-Kämpfer:innen befreite im Januar 2013 Schritt für Schritt die von Verstärkung abgeschnittene Stadt. In den Verwaltungsgebäuden der Dschihadisten wurden Dokumente sichergestellt, welche die Zusammenarbeit mit der Türkei und ISIS belegten. Al-Nusra wurde international als Terrororganisation eingestuft und benannte sich am 28. Juli 2016 in „Jabhat Fatah al-Sham“ und später dann in Hayat Tahrir al-Sham (HTS) um, um sich ein neues Image zu geben.
Der Angriff des IS
Als al-Nusra nicht erfolgreich war, trat 2014 der IS auf den Plan. Nach der Besetzung von Mossul und dem Massaker von Şengal richtete der hochgerüstete selbsternannte „Islamische Staat“ seine ganze Energie auf die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien. So sollten die Selbstverwaltung und das alternative Gesellschaftsmodell vernichtet und ein direkter Korridor zum IS-Hauptunterstützer Türkei geschaffen werden. Dem IS gelang es, weite Gebiete bis zur türkischen Grenze zu erobern. Über die türkische Grenze konnte der IS Öl verkaufen, Dschihadisten zur Behandlung in türkischen Krankenhäuser schicken und Söldner aus der ganzen Welt in Empfang nehmen. Ein kontinuierlicher Strom an Waffen und Söldnern aus der Türkei über Städte wie Girê Spî (Tall Abyad) und Minbic stellte die Lebensader des IS dar. Nach der Eroberung von Raqqa und Tabqa startete der IS in der Nacht vom 14. auf den 15. September einen Großangriff auf Kobanê. Die Verteidigungskräfte von Rojava und die Menschen in der Region stellten sich dem brutalen Angriff mit leichten Waffen und größter Opferbereitschaft entgegen und konnten die Islamisten mithilfe einer Welle von internationaler Solidarität zurückschlagen und die erste Niederlage des IS einleiten. Hatten USA und EU Kobanê bereits abgeschrieben, so waren sie aufgrund der internationalen Aufmerksamkeit zum Eingreifen gezwungen. Die Hauptlast der Kämpfe trugen jedoch weiterhin die Verteidigungskräfte, und sie setzten ihren Kampf von Minbic über Tabqa und Raqqa bis nach al-Bagouz zur vollständigen Zerschlagung der Territorialherrschaft des IS fort.
Der türkische Staat hält bis heute am IS fest, um seine Interessen in der Region durchzusetzen. Enge türkische Verbindungen zeigten sich beim Anschlag am 27. Juli 2016 auf das Xerbî-Viertel in Qamişlo, bei dem 62 Menschen ermordet und 176 verletzt wurden, als ein mit Sprengstoff beladener LKW explodierte.
Die türkische Armee greift selbst ein
Als der türkische Staat erkannte, dass er seine Ziele nicht durch Söldnergruppen erreichen konnte, setzte er seine eigene Armee ein. Unter dem Namen „Operation Euphrat-Schild“ drang sie am 24. August 2016 in die syrischen Städte Azaz, Bab und Cerablus ein. Azaz und Cerablus wurden kampflos vom IS an die türkische Armee übergeben. So sollte einer Befreiung der Region zuvorgekommen werden. Im Jahr 2017 startete der türkische Staat einen Invasionsangriff auf Idlib und errichtete dort ein Protektorat unter der Herrschaft von Hayat Tahrir al-Sham (HTS).
Am 20. Januar 2018 begann dann mit der „Operation Olivenzweig“ die Eroberung und Besetzung von Efrîn. Der türkische Staat griff mit 72 Kampfflugzeugen an und verübte schwerste Massaker an der Zivilbevölkerung. In Folge dieser Angriffe, bei denen unzählige Menschen massakriert wurden, wurde Efrîn am 18. März 2018 fast vollständig besetzt, und mehr als 300.000 Einwohner:innen mussten vor dem Terror von Armee und Söldnern in umliegende Regionen fliehen. Seitdem herrscht in Efrîn ein Regime der Vertreibung und des Besatzungsterrorismus.
Am 9. Oktober 2019 fiel die türkische Armee in Serêkaniyê und Girê Spî ein und besetzte die Regionen. Bei der Besetzung wurden unter anderem auch Phosphorbomben gegen Zivilist:innen eingesetzt. Seitdem herrscht dort ein ähnliches Terrorregime wie in Efrîn. Efrîn, Idlib, Serêkaniyê und Girê Spî sind zu Rückzugsorten für den IS geworden.
„Feuerpause“ als Komplott gegen Rojava
Während die Invasionsangriffe auf Serêkaniyê und Girê Spî weitergingen, wurde die Region mit einem „Waffenstillstandsabkommen“ zwischen den USA und der Türkei am 17. Oktober 2019 und zwischen Russland und der Türkei am 22. Oktober 2019 den Söldnern überlassen. Der türkische Staat setzte unter dem Vorwand von angeblichen Verletzungen der Waffenruhe durch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) seine Angriffe unter dem Credo der „Grenzsicherung“ fort. Seitdem hageln zehntausende Granaten aus den besetzten Gebieten auf die Städte und Dörfer im Umfeld. Dabei wurden viele Zivilist:innen getötet. Doch Russland und die USA betreiben seit fast vier Jahren eine Politik des Wegschauens und ermutigen damit die Türkei zu immer massiveren Angriffen.
Neue Invasionsdrohungen
Die AKP/MHP-Regierung droht permanent, den ganzen Norden Syriens anzugreifen und zu besetzen. So hat sie am 1. Juni 2022 Kobanê, Minbic und Til Rifat ins Visier genommen. Der türkische Regimechef Erdoğan erklärte: „Wir treten in die neue Phase unseres Planes ein, eine 30 Kilometer tiefe Sicherheitszone entlang unserer Südgrenzen zu schaffen. Wir befreien Til Rifat und Minbic von Terroristen.“
Mazlum Abdi, Generalkommandant der QSD, erklärte in seiner ersten Stellungnahme zu den neuen Invasionsdrohungen und Angriffsplänen des türkischen Staates: „Seit zwei Jahren will Erdoğan seine innenpolitische Zwickmühle aufbrechen, indem er die Region angreift. Wenn er die verschiedenen Kräfte überzeugen und die Infrastruktur für die Angriffe schaffen kann, wird die Türkei angreifen. Wir haben uns seit langem auf diesen Krieg und die Selbstverteidigung vorbereitet. Nach den Ereignissen in Serêkaniyê und Girê Spî bereiten wir uns auf Widerstand vor. Die Menschen werden mit uns Widerstand leisten. Es wird ein harter Krieg werden. Ich glaube nicht, dass die Türkei gewinnen wird. Wir sind dafür, alle Probleme im Dialog zu lösen, aber wenn es zu einem Angriff kommt, werden wir uns wehren.“
Der Demokratische Syrienrat (MSD), die QSD und die Selbstverwaltung hielten am 11. Juni 2022 angesichts der Invasionsdrohungen eine außerordentliche Sitzung ab und bekräftigten, dass man aus den Erfahrungen von Efrîn, Girê Spî und Serêkaniyê gelernt habe und entsprechend Widerstand leisten werde.
Die bedrohten Gebiete
Aktuell sind primär Kobanê, Minbic und Tel Rifat von einer Invasion bedroht. Diese Gebiete sollen die Brückenköpfe für weitere Attacken bilden.
Kobanê: Die Einwohnerzahl der Stadt, die 30 Kilometer westlich des Euphrat und 150 Kilometer von Aleppo entfernt liegt, beträgt 300.000. Kobanê hat eine Fläche von 3.003 Quadratkilometern und besteht aus der Stadt, den fünf Kreisstädten Sirîn, Qinê, Şêran und Çelebî sowie 366 Dörfern. In der Stadt, die zu 90 Prozent von Kurd:innen bewohnt wird, leben auch Armenier:innen und Araber:innen. Die Stadt, deren Sicherheit vom Militärrat und den Kräften der inneren Sicherheit gewährleistet wird, ist ein wichtiges Zentrum für die Organisation der Selbstverwaltung der Euphrat-Region. Die Einwohner:innen von Kobanê sind angesichts des Widerstands, der gegen die IS-Invasion geleistet wurde, nicht bereit, die Stadt aufzugeben. Neben den militärischen Organisationen nimmt die Bevölkerung auch ihre eigenen Verteidigungsaufgaben im Rahmen der Gesellschaftlichen Verteidigungskräfte (HPC) wahr. Die HPC stehen unter der Kontrolle der Basisräte. An den Grenzen von Kobanê sind auch syrische Regimesoldaten stationiert, von denen im Falle einer Invasion jedoch wenig zu erwarten ist.
Minbic: Die Stadt liegt an der syrischen Ost-West-Achse M4, 25 Kilometer vom Euphrat und 75 Kilomerter von Aleppo entfernt. Es ist eine Region, in der Araber:innen, Tscherkess:innen, Turkmen:innen und Kurd:innen zusammenleben. Minbic wurde am 15. August 2016 aus den Händen des IS befreit. Damit wurde die Route nach Efrîn freigemacht. Die Stadt gilt als Tor zum selbstverwalteten Kanton Şehba und ist von entscheidender politischer und strategischer Bedeutung. Der Militärrat und die Kräfte der inneren Sicherheit sorgen für die Sicherheit in der Stadt. Minbic ist eine der Regionen, in denen das Modell der pluralistischen demokratischen Nation am klarsten sichtbar wird. So hatte die Türkei immer wieder vergebens versucht, turkmenische Bevölkerungsgruppen gegen die Selbstverwaltung aufzuhetzen. Auch Russland und die Regierung von Damaskus unterhalten Militärstützpunkte in der Stadt.
Tel Rifat: Tel Rifet grenzt an Aleppo und bildet gewissermaßen die Verteidigunglinie vor Aleppo. Diese kleine Region, die aus etwa 80 Dörfern und Weilern besteht, 65 Kilometer lang und 10 bis 15 Kilometer breit ist, ist für Aleppo von strategischer Bedeutung. Die von mit dem türkischen Staat verbundenen Söldnern besetzte Region wurde am 16. Februar 2016 unter der Führung der QSD-Mitgliedsgruppe Jabhat al-Akrad befreit. In der Region befinden sich viele Binnenflüchtlinge aus Efrîn. Russland, Iran und Damaskus unterhalten dort Militärstützpunkte.
Welche Ziele werden darüber hinaus verfolgt?
Die drei Zielregionen bilden Brückenköpfe. Hinzu kommt, dass vermutlich auch von den bereits besetzten Gebieten aus weitere Eroberungen folgen sollen. So befinden sich die Gebiete um Ain Issa und Girê Spî, Til Temir, Zirgan und Dirbêsiyê schon lange im türkischen Fokus. Es wird auch prognostiziert, dass das Gebiet von Tirbêspiyê bei Qamişlo bis zur Stadt Dêrik an der Grenze zu Süd- und Nordkurdistan ebenfalls Ziel möglicher Invasionsangriffe sein könnte.
Taksim-Anschlag als Trigger-Szenario
Der Taksim-Anschlag am 13. November 2022 scheint Teil der Angriffsstrategie gewesen zu sein und sollte eine Invasion in der Region legitimieren. Es wurde sofort die absurde Behauptung gestreut, YPG und YPJ seien dafür verantwortlich und der Anschlag sei in Kobanê geplant worden. Solche Provokationen sind nicht unüblich. So hatte der Geheimdienstchef Hakan Fidan schon 2014 in einem Gespräch in Regierungskreisen zu einem Vorwand eines Angriffs auf Rojava erklärt: „Schauen Sie, General, ich schicke vier Männer auf die andere Seite und lasse sie acht Stück (gemeint sind Granaten oder Raketen) auf ein leeres Feld schießen. Das ist kein Problem. Ein Vorwand lässt sich konstruieren.“ Und solche Provokationen wurden immer wieder versucht. Offenbar war der Taksim-Anschlag jedoch ein derartig durchsichtiges Manöver, dass die türkische Regierung damit auch bei ihren Verbündeten nicht vollständig durchkam.
Die Angriffe am 19. und 20. November
Der türkische Staat bombardierte als vermeintliche Vergeltung für den Anschlag am Taksim-Platz in der Nacht vom 19. auf den 20. November die Regionen Şehba, Kobanê, Zirgan und Dêrik im Norden Syriens durch Kampfflugzeuge und bewaffnete Drohnen. Dabei wurden vor allem zivile Strukturen wie ein COVID19-Krankenhaus, Schulen, Wohngebiete, Infrastruktur und Dienstleistungseinrichtungen getroffen. Der zehntägige Angriff, bei dem 13 Zivilist:innen getötet und 14 Zivilist:innen, darunter drei Kinder, verletzt wurden, wurde groß als „Zeit der Abrechnung“ propagiert. Für die angekündigte Bodenoperation fehlt dem türkischen Staat bis heute das grüne Licht. Diese Situation kann sich jedoch im Angesicht der internationalen Verwerfungen jederzeit ändern und es besteht weiterhin akute Gefahr.