Seit Wochen beherrscht die von Machtkalkülen und lnteressenvertretungsaufgaben getriebene „türkisch-syrische Annäherung“ unter der Ägide Russlands die Medien. Die Reaktionen nehmen teilweise schon groteske Formen an. So spricht man bereits von einer friedensstiftenden Initiative für Syrien. Das ist absurd, meint Emine Osê, stellvertretende Ko-Vorsitzende der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES), mit Verweis auf fortgesetzte Kriegsdrohungen der Türkei gegen die Autonomieregion und synchrone Ankündigungen über ein russisch-türkisch-syrisches Außenministertreffen zur „Regulierung“ der Syrien-Frage, auf das noch vor der für Mai angesetzten Präsidentschaftswahl in der Türkei ein Dreiergipfel mit Putin, Erdogan und Assad folgen soll. „Im Handlungsdreieck Moskau-Ankara-Damaskus steht eine Aushandlung über die Zerschlagung der AANES ganz oben auf der Agenda. Als Selbstverwaltung sind wir sowohl politisch als auch diplomatisch mit all unseren Kräften mobilisiert“, sagt Osê. Wir veröffentlichen das gekürzte Interview in deutscher Übersetzung.
Wie wahrscheinlich ist Ihrer Meinung nach ein neuer Besatzungsangriff?
Sehen Sie, die in der Nacht vom 19. auf den 20. November eingeleitete Angriffswelle des türkischen Staates gegen unsere Region folgte auf zahlreiche Drohungen durch die Regierung in Ankara. Zuvor wurde bereits der Drohnenkrieg gegen die AANES intensiviert, bei jeder sich bietenden Gelegenheit verüben diese Killermaschinen verheerende Bombardements. Es gilt besonders zu erwähnen, dass ein den hiesigen Kräften zugeschriebener Anschlag in Istanbul als Argument für die dreiwöchigen Angriffe im November und Dezember herangezogen wurde. Infolge dieser Bombardierungen wurden wichtige Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas gezielt zerstört. Die verursachten Schäden sind immens. Vergessen wir nicht, dass bei Luftschlägen auf den Ort Teqil Beqil elf Menschen aus der Zivilbevölkerung getötet wurden.
Der Plan für eine breit angelegte Invasion der nordostsyrischen Autonomiegebiete liegt schon lange auf dem Tisch von Erdogan. Doch für die zum Ende des vergangenen Jahres geplante Bodenoffensive war Ankara am Ende doch nicht hundert Prozent vorbereitet.
Was hat es mit der vermeintlichen Kehrtwende in den Beziehungen zwischen dem türkischen Staat und der Regierung in Damaskus auf sich? In den letzten Wochen hat es unter russischer Regie einige Gespräche gegeben, weitere Treffen sollen folgen. Was ist das gemeinsame Interesse, das das syrische Regime und die Interventionsmächte Russland und Türkei zusammenführt?
Der türkische Präsident Erdogan macht dem syrischen Regime schon länger Avancen und hat sich mehrfach für ein gemeinsames Treffen mit Baschar al-Assad und Wladimir Putin ausgesprochen. Er schuf die Voraussetzungen und bereitete die Öffentlichkeit auf den Kurswechsel vor. Es ist allerdings offensichtlich, dass Erdogans Wunsch nach einem Treffen nicht auf die Lösung der Syrien-Krise abzielt. Er hält an seinem Vorhaben fest, einen weiteren Besatzungskrieg vom Zaun zu brechen, und versucht die Kräfte in seinem Umfeld in diesen Plan einzuspannen. Das gleiche Spiel treibt er derzeit mit Damaskus. Es ist Russland, das in dieser Hinsicht Druck ausübt. Moskau unterstützt den im Inneren des Landes angeschlagenen Erdogan mehr denn je, damit er die Wahlen gewinnt. Diese Bemühungen dienen dem Zweck, den Status quo des russisch-türkische Verhältnisses beizubehalten. Hierzu muss Erdogan in jedem Fall wiedergewählt werden. Dafür wird der Druck auf Damaskus auch mal erhöht.
In allen bisherigen Gesprächen stand im Mittelpunkt der türkischen Forderungen die Zerschlagung der AANES sowie der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD). Das Regime gab zu erkennen, dass es sich nur Erdogan zubewegen wolle, wenn alle türkischen Truppen Syrien verlassen und die Frage der Türkei-treuen Dschihadistenmilizen gelöst ist. Das aber sind Punkte, bei denen Ankara nicht so schnell nachgeben wird. Erdogan möchte die besetzten Gebiete in Syrien dem türkischen Staatsgebiet einverleiben und die „neue“ Landkarte der Türkei im Wahlkampf präsentieren. Wenn seine islamistischen Milizen plötzlich zur Verhandlungsmasse werden, hat er innenpolitisch ein Problem. Ich wiederhole nochmal, dass es Erdogan einzig um die Beseitigung der AANES und der QSD mit Unterstützung Russlands geht. Alle bisherigen Gespräche drehten sich um die Frage, auf welche Weise die russisch-türkisch-syrische Zerschlagung unseres Projekts umgesetzt werden könnte.
Hat ein solcher Plan überhaupt eine Chance auf Erfolg?
Der von der türkischen Seite gewählte Weg ist keiner, mit dem eine Lösung erreicht werden kann, und er ist auch nicht leicht. Ankara wird das Ziel der vollständigen Besetzung Nord- und Ostsyriens nicht aufgeben. Wenn das Regime auf der Forderung nach einem Rückzug des türkischen Staates aus der illegalen Besatzungszone besteht, kann dieses Bündnis nicht zustande kommen. Sollte Damaskus jedoch aufgrund des russischen Drucks auf seine Forderungen verzichten und die türkische Besetzung legitimieren, wird es Syrien schon bald nicht mehr geben.
Welche Haltung werden Sie als Autonomieverwaltung gegenüber diesen Angriffen einnehmen?
Die gesamte Bevölkerung Nord- und Ostsyriens wird sich bei einem Krieg ehrenhaft verteidigen, davon bin ich überzeugt. Jeder Mensch wird Widerstand leisten, um seine eigenen und die gemeinsamen Errungenschaften zu schützen. Gleichzeitig werden auch die QSD stärker als in den Jahren zuvor auf Angriffe reagieren. Sie verfügen über die nötige Stärke, die Aggression zu stoppen. Als AANES sind wir mit allen Kräften mobilisiert, sowohl auf politischer als auch auf diplomatischer Ebene. Alle unsere Bemühungen zielen darauf ab, einen Krieg zu verhindern. Wir sind auch bereit für einen zweiten Schritt.
Hat die internationale Anti-IS-Koalition hier nicht einen Auftrag?
Die derzeitige Haltung der Koalitionstruppen ist ungenügend. Solange für diese vom IS befreiten Gebiete keine politische Lösung gefunden wurde, sollten wir die Region weiter schützen. Das wäre eine wünschenswerte Haltung. Damit würde sowohl Ankara als auch Damaskus die Angriffsfläche genommen.