Mit dem Ziel einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus hat Russland vor einigen Monaten einen Prozess der Annäherung in Gang gesetzt. Die Welt staunte nicht schlecht, als kurz vor der Jahreswende erstmals seit elf Jahren wieder ein offizieller Kontakt zwischen Regierungsvertretern der Türkei und Syriens stattfand. Die Verteidigungsminister der drei Länder trafen sich in Moskau, um unter russischer Ägide über die Zukunft Syriens zu sprechen. Ebenfalls beteiligt waren der türkische Geheimdienstchef Hakan Fidan sowie dessen Kollegen aus den beiden anderen Staaten.
Etwa zur selben Zeit ließ Fidan arabische „Stammesführer“ aus Syrien in der Grenzprovinz Riha (tr. Urfa) versammeln, um sie für seine Interessen einzuspannen. Der türkische Diktator Recep Tayyip Erdoğan spricht indes immer wieder von der Möglichkeit eines Gipfeltreffens mit seinem syrischen Amtskollegen Baschar al-Assad. Im ANF-Interview kommentiert Salih Muslim, Ko-Vorsitzender der Partei der demokratischen Einheit (PYD), die aktuellen Entwicklungen im Handlungsdreieck Moskau-Ankara-Damaskus als einer Lösung der Syrien-Krise zuwiderlaufend.
Die Gespräche zwischen Damaskus und Ankara werden intensiv diskutiert. Wie sehen Sie diese Annäherung und ist es möglich, zum Status Quo ante 2011 zurückzukehren?
Wir sagen von Anfang an, dass das Ganze eher einer Zwangsehe ähnelt. Aufgrund der Ereignisse der jüngeren Geschichte, Verrat und Feindseligkeiten gibt es zwischen beiden Seiten tiefe Zerwürfnisse. Die können nicht an einem Tag ausgeräumt werden. Dafür braucht es einen langwierigen Prozess. In der gegenwärtigen Situation halten es Erdoğan und Assad von Vorteil, sich als in einem Boot sitzend zu betrachten. Es geht darum, die Bedürfnisse Russlands zu erfüllen und sich für die Wahlen in der Türkei zu rüsten. Dies hat kaum Aussichten auf Erfolg.
Der eingeschlagene Weg kann sogar zu genau gegenteiligen Ergebnissen führen. Das hat sich bereits unmittelbar nach Bekanntgabe der Annäherung abgezeichnet. Wir alle haben die Reaktion der Gruppierungen unter türkischer Kontrolle auf die Avancen gesehen, die Erdoğan dem Assad-Regime macht [gemeint sind Proteste von dschihadistischen Siedlern in der türkischen Besatzungszone Nordsyriens gegen die Wiederannäherung zwischen der Türkei und der syrischen Führung]. Es ist eine komplizierte Situation. Das darf die Bevölkerung Syriens nicht vergessen. Bis 2010 galten Erdoğan und Baschar al-Assad als ein Herz und eine Seele. 2011 kam die Kehrtwende. Wir erinnern uns alle noch sehr gut an die Worte Erdoğans [Damals hatte Erdoğan Assad unter anderem als Terroristen beschimpft, ihn mit Hitler und Mussolini verglichen und seinen Rücktritt gefordert]. Das ist allgemein bekannt. Dieser Krieg hat mehr als eine halbe Million Menschenleben gefordert. Die Grenze des Erträglichen ist schon lange erreicht. So sehr das Assad-Regime dafür verantwortlich ist, so sehr ist es auch die Türkei. Erdoğan hat all diese Verbrecher hierhergebracht. Die Türkei hat den IS aufgebaut, um die Kurden zu vernichten. Sie hat ihn als Erpressungsmittel nach innen und außen benutzt und tut es weiterhin.
„Die ganze Welt kennt die Wahrheit“
Die Russen waren die ersten, die dies verkündeten. Sie werden sich sicherlich daran erinnern, was Wladimir Putin damals sagte und tat, und wie er seine Beziehungen nach dem Abschuss der russischen Suchoi Su-24 im Jahr 2015 abgebrochen hat [nach dem türkischen Abschuss eines Jagdflugzeugs der russischen Luftwaffe in syrischem Luftraum warf Putin der Türkei Komplizenschaft mit der Terrormiliz IS vor; Moskau verhängte einen umfassenden Importstopp türkischer Waren und führte die Visumspflicht für türkische Staatsangehörige wieder ein]. Dass diese Personen trotz tiefgreifender Widersprüche zusammenkommen und diese Zeit keine Rolle spielt, ist praktisch unmöglich. Deswegen sprechen wir von Zwangsehe. Das Aufbrechen der Risse in dieser Allianz ist ohnehin schon zu hören. Der Erdoğan-Berater Yasin Aktay äußerte kürzlich: „Um diese Verhandlungen zu führen, ist es absolut notwendig, Aleppo zu erobern.“ Sie sprechen also davon, loszuziehen und zu erobern, also zu besetzen. Auf der einen Seite wird ein Schwenk in der Syrien-Politik angekündigt, die zu einer Wiederannäherung zwischen Ankara und Damaskus führen soll, und auf der anderen Seite geht es um die Besetzung von Aleppo und die Ansiedlung von Geflüchteten. Die türkische Allianz mit dem IS ist auch in Europa, den USA und bei den internationalen Mächten unstrittig. Dennoch geht die türkische Führung gegen die Kräfte vor, die in der Region den IS bekämpfen.
Wir haben bei der Angriffswelle am 19. und 20. November die Intention der Türkei gesehen. Die Bombardierungen richteten sich gezielt auf die hiesige Infrastruktur sowie Orte, an denen IS-Gefangene festgehalten werden. Wir sprechen von Luftschlägen auf Internierungslager und damit Versuchen, gefangene IS-Terroristen zu befreien. Diese Angriffe haben alles auf den Kopf gestellt. Im Camp Hol beispielsweise sind acht unserer Freunde gefallen. Die Türkei hat selbst auf einem Stützpunkt der internationalen Koalition stationierte Kräfte, die gegen den IS-Terror kämpfen, angegriffen. Zwei unserer Freunde sind dort gefallen. Dasselbe gilt für andere Orte. Auch ist ein Gefängnis angegriffen worden. Daraus lässt sich schließen, dass man die dortigen IS-Leute freibomben wollte. Die ganze Welt stellte sich dem entgegen.
Welche Rolle spielt Russland bei den Verhandlungen zwischen Erdoğan und Assad?
Putin beherrscht beide Seiten. Erdoğan ist eine Marionette in seinen Händen und muss tun, was er will. Er kann sich daher sogar der NATO widersetzen. Gegen Russland sind [im Zuge des Angriffs auf die Ukraine] breite Sanktionen in Kraft getreten, davon ist im Handel zwischen Ankara und Moskau aber nichts zu spüren. Das heißt, die Türkei setzt die Russland-Sanktionen nicht um, obwohl sie Mitglied der NATO ist. Kommende Woche wird der türkische Außenminister Çavuşoğlu in Washington erwartet. Die Reise findet vor seinem Treffen mit dem syrischen Außenminister statt. Ich gehe davon aus, dass ihm in Washington ein Denkzettel verabreicht wird.
Die USA haben ohnehin verärgert auf die türkischen Annäherungsversuche an Assad reagiert. In Washington ist man dagegen, die Beziehungen zu normalisieren. Schließlich würde die UN-Resolution 2254 [Darin wird die Einstellung aller Kampfhandlungen, die Berücksichtigung der Souveränität Syriens und eine politische Lösung für Syrien gefordert] der internationalen Mächte vollständig über den Haufen geworfen. Die Türkei hat in keinster Weise Interesse an einer Umsetzung der eigentlichen Ziele der Resolution, denn sie ist die Kriegspartei, die der Resolution zuwider handelt. Um sich Konsequenzen entziehen zu können, setzt Ankara auf eine Annäherung mit Damaskus. Deshalb glaube ich nicht, dass das Problem vergehen wird. Stattdessen wird es in Form einer Krise andauern.
Was hat die gegenwärtige Situation mit den Wahlen in der Türkei zu tun?
Der Wahlprozess in der Türkei bringt alles durcheinander. Vor zwei Jahren, als dieser Wahldiskurs aufkam, haben wir gesagt: Diktatoren lassen sich nicht abwählen. Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben, denn nur in Demokratien gehört es zu den grundlegenden Prinzipien, Politiker abwählen zu können. Unter dem Despoten Erdoğan wird es keine demokratischen Wahlen geben, da dies ja bedeuten würde, den Weg zur Beseitigung seiner Diktatur selbst zu ebnen. Das wird er zu verhindern wissen, die Mittel dazu hat er. Er könnte den Ausnahmezustand verhängen oder einen Krieg auslösen. Mit anderen Worten: Ihm ist alles zuzutrauen. Das haben wir beim Komplott von Taksim gesehen.
Könnte es auch neue Angriffe auf Nord- und Ostsyrien geben, um den Sieg der AKP bei der Wahl zu garantieren?
Erdoğan könnte Angriffe unter verschiedenen Vorwänden starten. Niemand kann das wirklich vorhersagen. Er könnte die ganze Welt ruinieren, nur um die Wahlen zu gewinnen. Die innenpolitischen Debatten hierzu eskalieren bereits. Ohne eine Verfassungsänderung etwa wäre eine dritte Amtszeit des Präsidenten nur möglich, wenn die Wahlen vorgezogen würden. Dennoch will man die Gesetze nun schleunigst anpassen. Die Lage in der Türkei wird immer aufgeheizter, die nächsten Monate sind sehr wichtig. Das Unerwartete kann passieren, denn es handelt sich um ein despotisches Regime. Ein Mann, der sich für einen Sultan hält, kann eine sehr komplizierte Situation schaffen. Die Bevölkerung der Türkei wird darunter am meisten leiden. Auch Außenstehende, insbesondere wir, können zu den Betroffenen gehören. Wenn er etwas Verrücktes tut, werden die Menschen hier ebenfalls leiden. Wie ich bereits sagte, glaube ich nicht, dass die Syrien-Türkei-Frage mit dieser faschistischen Mentalität und pragmatischen Haltung zu einem Abschluss kommen wird.
Es wurde berichtet, dass der türkische Nachrichtendienst (MIT) vor einigen Tagen in Riha ein Treffen mit einigen syrischen Stammesvertretern abgehalten hat. Haben Sie irgendwelche Informationen zu diesem Thema?
Ja, einige versammelten sich dort. Es handelt sich nicht um Stämme, sondern um Menschen, die von dieser Situation profitieren wollen und die Stämme Syriens nicht repräsentieren. Es handelt sich um pragmatische und opportunistische Persönlichkeiten. Sie sind dort, um über das Blut der Völker zu verhandeln und Erdoğans Spiel zu spielen. Dies ist nicht das erste Mal. Das geht schon seit vier, fünf Jahren so. Ihr Ziel ist es, Chaos zu schaffen. Die Stämme hier sind Teil des etablierten Systems der Selbstverwaltung, sie sind Partner. Sie sind sowohl in der Verwaltung als auch im Krieg aktiv – und das nicht erst seit gestern, sondern seit zehn Jahren. Ein paar Leute zu versammeln, die keine Verbindungen mehr haben, bedeutet nichts. Dies ist nicht der erste Versuch. Es geht hier eher um Betrug. Das sind Menschen, die sich von den Stämmen hier getrennt haben. Das beobachten wir seit einer ganzen Weile. Es sind hoffnungslose Versuche. Was kann eine Handvoll Personen, die in Riha ansässig geworden sind, hier schon ausrichten? Das wird vom MIT organisiert. Ich glaube nicht, dass es zu Ergebnissen führen wird, weil diese Personen nicht vor Ort sind. Niemand wird ihnen zuhören. Alle wissen, wie sie sich verkauft haben. Viele von ihnen haben es bereut und sind bereits zurückgekehrt. Ich denke, die Übrigen sind zu nichts zu gebrauchen. Es handelt sich um ein Treffen der Nichtsnutze.
Wird die ständige Suche nach einer Lösung für Syrien im Ausland zu etwas führen?
Nur die Menschen in Syrien können die syrische Frage lösen. Damit die Menschen hier das Problem lösen können, müssen diejenigen, die bei Verhandlungen sprechen, unabhängig sein. Ihr Wille und ihre Gedanken müssen frei sein. Sie dürfen keine Weisungen von anderen erhalten. Was machen zum Beispiel Kräfte wie die Türkei in Syrien? Sie täuschen einige Menschen in Syrien und bringen sie gegeneinander auf. Wie wurden denn eine halbe Million Menschen getötet? Ein Teil fiel dem Regime zum Opfer, andere wurden von Dschihadistenmilizen ermordet und wiederum weitere auf Anweisung der Türkei getötet. Deshalb kann man dieses Problem nicht ohne freie Menschen in Syrien lösen. Die Menschen müssen frei in ihren Gedanken und Entscheidungen sein. Unsere Losung an alle Bevölkerungsgruppen lautet: Lasst uns alles tun, was nötig ist, um zusammenzuleben. Lasst uns gemeinsam tun, was wir brauchen, und nicht auf Anweisung von Erdoğan, Baschar al-Assad, den USA oder Russland handeln.
Wir, die PYD und die Selbstverwaltung, haben die Entscheidungen selbst in der Hand. Wir haben uns nie an irgendwelche Weisungen gehalten. Wir tun, was für uns notwendig ist, aber wir konnten niemanden auf der anderen Seite finden, der diesen Willen hat. Das gibt es sogar in innerkurdischen Beziehungen. Wir sind Kurden, wir leben dafür und für Kurdistan, wir tun alles, was nötig ist, aber das geht nicht, wenn man die Kraft von jemand anderen bekommt. Das Gleiche gilt auch für die Syrer. Sie kommen, setzen sich hin, aber schauen, was andere sagen. So können wir zu keiner Entscheidung kommen. Lasst uns gemeinsam für unsere Heimat denken und tun, was notwendig ist, und korrigieren, was falsch ist.
Das Ergebnis, was die seit 1963 herrschende Regierung hervorgebracht hat, liegt auf der Hand. Deshalb ist eine neue Praxis notwendig. Lasst uns miteinander sprechen. Lasst uns gemeinsam überlegen, was die Regierung in Damaskus tun muss. Lasst uns das gemeinsam entscheiden.
„Das Notwendige für den Frieden tun“
Alle Völker Syriens, Kurden, Araber und Suryoye, alle werden gemeinsam politisch entscheiden. Wenn das nicht passiert, dann geht es nach hinten los. Anstatt zu streiten, müssen wir alles Notwendige für den Frieden tun. Dies erfordert einen freien Willen. Es erfordert einen freien Geist. Bislang konnten wir diesen nicht sehen. Für die Menschen in Syrien ist der aktuelle Prozess sehr unklar. Wir wissen nicht, was passieren wird. Wir können diesen Prozess für alle Menschen in Syrien und für uns selbst verkürzen, wenn wir frei sind und die Kontrolle über unsere Entscheidungen haben. Wenn wir immer nur nach außen schauen, um die Erwartungen anderer zu erfüllen, werden wir nicht nur wertvolle Zeit verlieren. Wir alle werden alles verlieren.