Efrîn-Tagebuch: Jede Geburt ist ein Grund zum Lächeln

Wir, die wir ständig Kriege erleben, altern schnell. Ein einziger Tag ist für uns mit so viel Schmerz und Freude gefüllt, dass es für ein ganzes Jahrhundert reichen würde. Der Schmerz stellt die schwerste Prüfung für uns dar.

Für Menschen wie uns ist es zu einer Angewohnheit geworden, zu lächeln, während alle anderen weinen. Stark zu bleiben, ist eine zwangsläufige Gewohnheit. Manchmal stirbt ein geliebter Mensch in deinen Armen und du möchtest aufschreien: „Ich will nicht stark sein, ich will meine Freundin zurück, ich bin kein Stein, ich will auch weinen!“ Das Kind in dir schreit, aber dein durch das Leben vorgealterte Ich bringt es zum Schweigen. Wir schreiben über alles und jeden, aber niemand schreibt über uns. Wir berühren jede Wunde und bluten selbst dabei, aber unsere eigenen Wunden zeigen wir kaum. Unsere Herzen bluten nach innen. Dem Tod begegnen wir ständig und leben trotzig weiter, als ob es eine uns auferlegte Strafe sei. Mit der Zeit geraten wir in einen Zustand, in dem wir uns über den Tod lustig machen.

Ich schreibe immer in der Mehrzahl über uns, aber eigentlich leben wir nur unsere Freude im Plural aus. Für unseren Schmerz finden wir singuläre Räume. Jetzt sagt ihr: „Du redest immer von ‚wir‘, aber wer seid ihr überhaupt?“ Ihr habt Recht, wer sind wir eigentlich? Kann man vielleicht sagen: Wir sind diejenigen, die alles mit bloßem Auge mit ansehen und immer wieder neue Hoffnung schöpfen? Sind wir diejenigen, die weder dabei noch außen vor sind? Eigentlich sind wir die kleinen Kinder der Stürme, wie Wind… Wir wehen inmitten der Kriege. Eine Sache ist uns allen gemeinsam: Wir beobachten das Feuer nicht aus der Ferne, wir müssen uns unbedingt daran verbrennen.

In den letzten vier Jahren habe ich Dutzende solcher Journalistinnen und Journalisten kennengelernt. Sie sind Freunde, wie Familienangehörige, Menschen, mit denen man Geheimnisse teilt. Einer von ihnen ist Ersin Çaksu. Kennengelernt haben wir uns im Kampf um Kobanê. Ersin ist ein Mensch, der seine Arbeit ernst nimmt, der unter allen Bedingungen die Haltung bewahrt und sowohl seine Freude als auch seine Traurigkeit unter Kontrolle hält. Er ist ein mutiger und warmherziger Mensch. Aus Spaß nenne ich ihn immer kirejok [in etwa: Schmuddelkind], aber eigentlich hat er sich immer seinen Platz unter denjenigen bewahrt, denen es gelingt, in jeder Hinsicht sauber zu bleiben. Ersin verfügt über eine Sensibilität, die es ihm ermöglicht, Dinge zu sehen, die sonst niemand sieht.

Und mit diesem Ersin bin ich jetzt in Efrîn. Rechts und links von uns hören wir Geschosse und Explosionen. Wir sind Zeugen des historischen Widerstandes einer Stadt, die unter ständigem Feuer steht. Und inmitten dieses rotglühenden Weltuntergangs ist Ersin zum ersten Mal Onkel geworden. Ständig schaut er sich die Fotos seiner Nichte an und lächelt. Allen, denen er begegnet, zeigt er das Foto des Neugeborenen. „Ist sie nicht hübsch?“ will er immer wieder wissen. Da kann man schlecht antworten, dass das Baby noch aussieht wie eine unbehaarte Ratte. „Sie wird sicher sehr hübsch, wenn sie größer ist“, ist eine annehmbare Alternative. Ersin bekommt nicht genug davon, seine Nichte zu betrachten, der er den Namen Efrîn Avesta gegeben hat. Er versucht sogar eine Ähnlichkeit zwischen sich und dem Baby festzustellen. Während wir jeden Tag den Tod Dutzender Kinder erleben müssen, freuen wir uns gleichzeitig mit Ersin über die Geburt eines Kindes. Wie viele Neffen und Nichten sind bereits inmitten der Kriege in unser Leben getreten? Wir haben sie Barin genannt, haben sie Nujiyan und Kobanê genannt, wir haben sie Efrîn Avesta genannt.

YENI ÖZGÜR POLITIKA