Nachdem die irakische Stadt Mosul 2014 vom sogenannten Islamischen Staat (IS) besetzt wurde, marschierten die Dschihadisten mit den dort erbeuteten Waffen in Raqqa ein, einer der größten Städte Syriens. Die Al-Qaida-Gruppe Jabhat al-Nusra und die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA) gaben die Stadt auf. Wenig später wurde Raqqa zur Hauptstadt des „IS-Kalifats“ ernannt und mit einer an der salafistischen Interpretation der Scharia orientierten Schreckensherrschaft überzogen. Von Raqqa aus übernahm der IS Schritt für Schritt viele weitere nordsyrische Städte und richtete sein Augenmerk im September 2014 auf Kobanê. Der IS griff die Stadt an drei Fronten an, stieß dort aber auf einen unvergleichlichen Widerstand. In Kobanê erlitt die Terrormiliz ihre erste Niederlage und wurde von nun an Stück für Stück in sein Zentrum Raqqa zurückgedrängt.
Im Mai 2016 begannen die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) gemeinsam mit Koalitionstruppen eine Offensive zur Befreiung von Raqqa. Nach siebzehn Monaten schwerer Kämpfe - die letzten vier Monate der Operation konzentrierten sich auf den Stadtkern - wurde der IS am 17. Oktober 2017 aus der Hauptstadt seines sogenannten Kalifats vertrieben. Die Erklärung zur Befreiung der Stadt gaben die an vorderster Front gegen den IS kämpfenden Frauenverteidigungseinheiten YPJ ab. Diese Erklärung wurde der ganzen Welt auf dem Al-Naim- Platz verkündet, wo der IS öffentliche Hinrichtungen durchführte.
Die Verwaltung des befreiten Raqqa wurde nach kurzer Zeit einem bereits im April in Ain Issa gegründeten Zivilrat übergeben. Ein Großteil der Stadt war vom IS und während der Befreiungsoffensive zerstört worden. Der Wiederaufbau wurde vor allem von den vom IS hinterlassenen Sprengfallen erschwert. Gleichzeitig verübten verdeckte Zellen des IS weiterhin Anschläge. Heute herrscht nach Angaben aus Sicherheitskreisen eine relative Ruhe und Stabilität in der Stadt. Mahmut al-Said, der zur Leitungsebene der inneren Sicherheit gehört, betont, dass dies ein sehr schwerer Prozess war: „Zuerst wurden Minen und Sprengkörper geräumt. Dann mussten die Zellen des IS und in letzter Zeit auch die des türkischen Staates und der Regierung in Damaskus verfolgt werden.“
Beim gesellschaftlichen Wiederaufbau durch den Zivilrat spielten die arabischen Stämme aus der Region eine wichtige Rolle. Mit Beginn der türkischen Invasion im Oktober 2019 in Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) wurden auch in Raqqa weiterbestehende Zellen reaktiviert. Ein Teil davon gehörte zum IS, ein anderer Teil unterstand dem türkischen Staat und den von ihm rekrutierten Dschihadisten. Am 22. Oktober 2019 wurden als Ergebnis eines Abkommens zwischen Russland und der Türkei bewaffnete Einheiten der syrischen Regierung an der türkischen Grenze stationiert. Danach wurden auch die Zellen des Assad-Regimes in der Region aktiv.
Das gemeinsame Ziel dieser aus unterschiedlichen Zentren kommandierten Zellen ist die Zerstörung der Sicherheit und Stabilität in der Region. Zu diesem Zweck wurden in Raqqa Anschläge auf Mitglieder des Zivilrats, Politiker*innen und Stammesälteste verübt.
Nur al-Zib, Ko-Vorsitzender des Zivilrats von Raqqa, verweist darauf, dass nach dem angekündigten Rückzug der US-Truppen aus Nord- und Ostsyrien von vielen Seiten von einem Zusammenbruch des in der Stadt mühsam aufgebauten Systems ausgegangen wurde. Es wurde sogar behauptet, dass der Zivilrat die Leitung der Stadt wieder an Damaskus übergeben werde. „Dank des Zusammenhalts der Bevölkerung und der Stämme und der erklärten Ablehnung einer äußeren Einmischung konnte der Zivilrat erfolgreich bestehen bleiben“, erklärt der Ko-Vorsitzende. Die gesellschaftliche Solidarität habe dafür gesorgt, dass der Versuch, Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen zu schüren, gescheitert sei: „Über die Zellen des syrischen Regimes sind mehrfach der Selbstverwaltung nahestehende Personen angegriffen worden. Es wurde versucht, Chaos in der Region zu stiften. Die Bevölkerung hat sich jedoch umsichtig verhalten und damit konnten diese Versuche ins Leere geführt werden.“