Am 9. Oktober jährt sich die Besetzung der nordsyrischen Regionen um Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) zum dritten Mal. Die türkische Armee hatte damals die Region mit Hilfe einer dschihadistischen Söldnerarmee, chemischen Waffen und heftigen Luftangriffen erobert und besetzt. Seitdem herrscht in der Region ein Schreckensregime. Einer vom Komitee der Vertriebenen aus Serêkaniyê und dem Solidaritätsverein Tazour erstellten Bilanz zufolge wurden in den vergangenen drei Jahren 511 Personen inhaftiert, 185 Personen entführt, 92 Gefangene völkerrechtswidrig in die Türkei verschleppt und 52 Personen getötet.
Folter und Hinrichtung
Auf einer Pressekonferenz am Samstag im Binnenflüchtlingslager Waşûkanî stellte der Sprecher des Vertriebenenkomitees, Ciwan Iso, die Bilanz vor. Iso erklärte: „Seit der Besetzung der beiden Regionen im Oktober 2019 wurden 511 Menschen, darunter 68 Frauen und 42 Kinder, verhaftet. 185 Menschen wurden entführt. 325 Menschen wurden gefoltert. Mindestens fünf Menschen wurden durch Folter getötet. 92 Gefangene wurden in die Türkei überstellt, 48 von ihnen dort zu Haftstrafen zwischen 13 Jahren und lebenslänglich verurteilt. 56 Menschen, darunter elf Frauen, wurden ermordet. Elf Menschen wurden hingerichtet.“ Wie im besetzten Efrîn gehören auch in Serêkaniyê und Girê Spî Entführungen und Lösegelderpressung zum Geschäftsmodell der Söldner, aber auch der türkische Geheimdienst MIT ist an den Entführungen beteiligt. Viele der Verschleppten landen in Folterkellern des Geheimdienstes.
85 Prozent der Bewohner:innen können nicht zurückkehren
In der Erklärung heißt es, dass mehr als 85 Prozent der Einwohner:innen von Serêkaniyê nicht in ihre Häuser zurückkehren konnten und 2.500 Familien aus anderen Regionen von der türkischen Besatzungsmacht anstelle der ursprünglichen Bewohner:innen angesiedelt wurden. Unter diesen Familien befänden sich 55 Familien von IS-Dschihadisten aus dem Irak. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation von Cizîrê wurden insgesamt mehr als 1.400 IS-Familien nach der Besetzung von Serêkaniyê dort angesiedelt. Der in Waşûkanî vorgestellten Bilanz zufolge wurden nach der Besetzung in Serêkaniyê und Girê Spî mehr als 5.500 Häuser und mehr als 1.200 Geschäfte beschlagnahmt. Die Bewohner:innen aus 55 Dörfer wurden vertrieben und mehr als 100.000 Hektar Land geraubt.
145 Zivilist:innen bei Angriffen gestorben
Explosionen und Kämpfe unter den Söldnergruppen der Besatzer fordern weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung. So heißt es in der Erklärung: „In der Region existiert keine Sicherheit, es gab mindestens 72 Detonationen, bei denen 145 Zivilist:innen, darunter Frauen und Kinder, getötet wurden. Mehr als 300 Menschen wurden verletzt. Darüber hinaus kam es 46-mal zu Zusammenstößen zwischen Gruppen, die der so genannten Syrischen Nationalarmee angehören. Infolgedessen verloren mindestens drei Bürger ihr Leben und mehr als 25 Personen wurden verletzt.“
Über 300.000 Vertriebene
Die Menschenrechtsorganisation der Region Cizîrê wirft in ihrer Bilanz einen Blick auf die Zahl und Situation der Binnenvertriebenen und berichtet, dass mehr als 100.000 Menschen allein aus Girê Spî vertrieben worden seien. Diese lebten jetzt unter schwersten ökonomischen Bedingungen in den Regionen Raqqa und Tabqa. Die Selbstverwaltung hat außerdem in der Nähe des Dorfes Til Semen das Binnenflüchtlingslager Girê Spî eingerichtet, in dem 6.450 Menschen leben. Aus Serêkaniyê wurden mehr als 200.000 Menschen vertrieben. Ein Teil der Binnenflüchtlinge wurde in den Camps Waşûkanî und Serêkaniyê bei Hesekê untergebracht, ein anderer Teil ging zu Verwandten in der Region Cizîrê.
Plünderungen führen zu Hungersnöten
Die Besatzungstruppen sorgten mit ihren Plünderungen für eine Nahrungsmittelverknappung. Weizen, der in Girê Spî in Silos bei Dehlîz, Sexrat und Şergirak gesammelt wurde, wurde geraubt und unter anderem auf dem türkischen Markt von Mittelsmännern der Söldner verkauft. Dasselbe geschah in Serêkaniyê. Aufgrund der Plünderung der Weizenspeicher kam es in der als Kornkammer berühmten Region zu Hungersnöten. Gleichzeitig wurde die Infrastruktur zerstört. So wurden viele Schulen in Militärstützpunkte verwandelt.
27 Tote durch türkischen Beschuss
Die besetzten Gebiete stellen nicht nur für deren Bewohner:innen eine Gefahr da. Insbesondere die benachbarten Regionen werden pausenlos mit Artilleriegranaten beschossen. Der Kreis Ain Issa und die Gebiete westlich von Girê Spî sind schwer davon betroffen. Dort wurden in den vergangenen drei Jahren 27 Zivilist:innen durch den Beschuss getötet und 77 weitere verletzt. Gleichzeitig wurden hunderte Hektar landwirtschaftlich genutzte Fläche durch den Beschuss in Brand gesetzt und Dutzende Häuser verwüstet.