Seit anderthalb Monaten führen Russland und Syrien eine Operation gegen Idlib. In den letzten beiden Tagen herrscht viel Bewegung an den Fronten Russlands, der Türkei, des syrischen Regimes und der regimefeindlichen Gruppen: Russland hat mitgeteilt, dass ein Waffenstillstand in der Region erreicht worden ist, die bewaffneten Gruppen haben das zurückgewiesen, der zehnte Beobachtungspunkt der Türkei ist angegriffen worden, die Türkei hat behauptet, aus dem vom syrischen Regime kontrollierten Gebiet seien 35 Mörsergranaten abgefeuert worden, Russland hat erklärt, dass die Koordinaten der getroffenen Stellen von der Türkei übermittelt worden sind, was die Türkei wiederum zurückgewiesen hat.
Die Türkei, die zunächst zu der Luft- und Bodenoperation Russlands und der syrischen Regimekräfte vom Norden Hamas aus Richtung Idlib geschwiegen hat, ist nach der verdeckt-offenen Intervention der NATO und der USA dazu übergegangen, die bewaffneten Gruppen direkt zu unterstützen. Der Handlungsspielraum der zwischen Russland und USA-NATO bedrängten Türkei wird zunehmend enger. Das Schicksal von Idlib hängt gleichzeitig ab von dem Raketenabwehrsystem S-400, das die Türkei von Russland kaufen möchte, und den F-35-Kampffliegern, die sie von den USA haben möchte.
Eine Betrachtung der Geschehnisse vor Ort, die über die offiziellen Verlautbarungen der gegnerischen Seiten hinausgeht, verweist darauf, dass der Kessel in Idlib überkocht.
Die Feuerpause
Die Ausrufung eines Waffenstillstands in Idlib ist keine neue Situation, über dieses Thema wird seit über zwei Wochen zwischen Russland, der Türkei und den bewaffneten Gruppen gesprochen. Die Türkei plante mit dem Waffenstillstand, bis nach der Istanbul-Wahl Luft zu schöpfen und Zeit zu gewinnen.
Im Norden von Hama und in den ländlichen Gebieten von Idlib befanden sich 80.000 Zivilisten, die in das vom Regime kontrollierte Gebiet gehen wollten. Russland war sehr für die Evakuierung dieser Menschen, um die eigene Position angesichts der Kritik der UN und des Westens zu stärken und psychologische Unterstützung für die nächste Phase der Operation zu gewinnen. Sowohl die Evakuierung von Zivilisten auf die Seite des Regimes als auch der Waffenstillstand wären gute Propaganda für Russland und das syrische Regime gewesen.
Forderungen abgelehnt
Bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand forderten die bewaffneten Gruppen einen Rückzug des Regimes aus den eingenommenen Orten sowie die Einstellung der Luftangriffe. Russland und das Regime haben diese Forderungen abgelehnt. Die Türkei hingegen hat einen Waffenstillstand befürwortet, um bei den Istanbul-Wahlen keinen Unfall zu erleiden.
Als die russischen Medien mitteilten, dass seit dem 13. Juni um null Uhr eine Feuerpause begonnen hat, haben zeitgleich die bewaffneten Gruppen den Beginn einer Operation gegen das Regime verkündet. In den gleichen Stunden haben syrische und russische Flugzeuge die Region aus der Luft bombardiert.
Angriff auf türkischen Beobachtungspunkt
Am 13. Juni teilte die türkische Armee mit, dass von unter syrischer Kontrolle stehendem Gebiet aus 35 Mörsergranaten auf den zehnten Kontrollpunkt der Türkei im Norden von Hama (Morek-Zaviye) abgefeuert und drei Soldaten bei dem Angriff verletzt worden sind.
Anschließend kam eine aufsehenerregende Erklärung Russland zu dem Thema. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, dass der Angriff, bei dem drei türkische Soldaten verletzt wurden, al-Nusra gegolten habe und auf Wunsch und mit den von der Türkei übergebenen Koordinaten stattgefunden hat.
Russland: Koordinaten von der Türkei
Der kritische Punkt dieser Erklärung betrifft die von der Türkei bereitgestellten Koordinaten, die Russland für vier Luftangriffe benutzt haben will. Nach russischen Angaben sind dabei „eine große Anzahl Militanter und Stellungen vernichtet worden, die für den Granatenbeschuss auf türkische Beobachtungspunkte genutzt worden sind“.
Ausweichende Antwort der Türkei
Stunden später gab das türkische Verteidigungsministerium eine Erklärung ab und behauptete, dass die Meldungen über den Angriff der russischen Luftwaffe mithilfe der von der Türkei gewünschten Koordinaten nicht der Wahrheit entsprechen. Dabei bezog sich das Ministerium nicht auf die offizielle Verlautbarung der russischen Amtskollegen, sondern sprach von Meldungen, die in einigen Medien erschienen seien.
Natürlich darf nicht vergessen werden, dass Russland mit seiner offiziellen Erklärung möglicherweise das Ziel verfolgt, die Distanz zwischen der Türkei und den bewaffneten Gruppen zu vergrößern. Das kraftlose Dementi der Türkei spiegelt die dahinter stehende Anspannung wider.
Die üblichen Verdächtigen
Quellen vor Ort berichten hingegen, dass der türkische Beobachtungspunkt direkt von bewaffneten Gruppen angegriffen worden ist. Zu der Frage, welche Gruppen den Angriff durchgeführt haben, wird mitgeteilt, dass sich der Verdacht auf die Al-Nusra-geführte Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und Jaish al-Izza konzentriert. Die Türkei versorge die bewaffneten Gruppen seit langer Zeit mit Waffen und gebe gleichzeitig Informationen über hochrangige Al-Qaida-Funktionäre und ihre Koordinaten an Russland weiter. Insofern ist es auch möglich, dass al-Qaida (HTS) mit dieser Offensive einen Konflikt zwischen der Türkei und Russland geplant habe.
Verdächtiger Tod von al-Sarout
Verdächtig erscheint auch der Tod des Jaish-al-Izza-Kommandanten Abdul Baset al-Sarout, der nach seiner Verwundung in Hama nach Hatay in die Türkei gebracht wurde und dort gestorben ist. Ein von CIA und Pentagon unterstützter Flügel innerhalb der Jaish-al-Izza soll davon überzeugt sein, dass al-Sarout in der Türkei ermordet worden ist, und Vergeltung fordern. Mit der Leichenehrung al-Sarouts in Reyhanli in der Provinz Hatay sollte demnach diesem Verdacht begegnet werden.
Türkei forderte russische Intervention
Diese Behauptungen haben sich bisher nicht bestätigt. Nach dem gestrigen Angriff auf den türkischen Beobachtungspunkt hat die Türkei jedoch Luftunterstützung von Russland angefordert. Nach dieser Aufforderung hat Russland nicht nur den zehnten Beobachtungspunkt aus der Luft bombardiert, sondern auch die bewaffneten Gruppen um den neunten Beobachtungspunkt.
Doppeltes Spiel geht weiter
Die Türkei bewegt sich in Idlib ideologisch mit den bewaffneten Gruppen, aber für die eigenen Interessen gemeinsam mit Russland. Sie versucht weiterhin auf Zeit zu spielen. Die Entscheidung der Türkei zwischen S-400 und F-35, also zwischen Russland und den USA, wird auch die Entscheidung in Idlib festlegen. Bis dahin wird die Türkei ihr doppeltes Spiel weiter betreiben.