Xelîl: Es bedarf neuer Friedensgespräche für Syrien

Aldar Xelîl von der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) erklärt, dass es neuer internationaler Friedensgespräche für Syrien bedarf, bei denen die Kurd*innen mit am Tisch sitzen.

Zwischen 2012 und 2017 wurden im schweizerischen Genf vier internationale Friedenskonferenzen für Syrien abgehalten. Sie alle blieben weitgehend erfolglos, auch weil den Kurd*innen kein Platz am Verhandlungstisch eingeräumt wurde. Aldar Xelîl, Exekutivratsmitglied der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), ruft zu einer Neuauflage der Friedensgespräche auf, an denen auch die Kurd*innen beteiligt sein sollten. Wir haben mit Xelîl über die Situation in Efrîn, die bestehende Gefahr durch den IS, die Debatten um einer internationale Sicherheitszone und die Bemühungen der Föderation Nord- und Ostsyriens für eine politische Lösung im Syrienkonflikt gesprochen.

Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für unsere Fragen nehmen. Wir möchten direkt mit der Situation in Efrîn beginnen. Dort soll die Besatzung mit der Errichtung einer Mauer auf die nächste Ebene getragen werden.  Wie ist die Lage im besetzten Efrîn und was wird für die Beendigung der Besatzung getan?

Die Besatzung Efrîns begann vor einem Jahr und drei Monaten. Zuvor wurde ein großer Kampf gegen die Besatzungsbestrebungen geleistet. 1.500 Menschen sind in diesem Kampf gefallen, mindestens ebenso viele wurden verletzt. Unsere gesamte Bevölkerung befand sich im Widerstand. Doch dem türkischen Staat ist es letztlich gelungen, die Besatzung zu realisieren. Auch wenn die Türkei derzeit Efrîn besetzt hält, sind wir davon überzeugt, dass sie den Willen der Bevölkerung bis heute hat nicht brechen können. Wir sind davon überzeugt, dass wir Efrîn befreien werden. Unsere gesamten Arbeiten und Planungen zielen darauf ab.

Zur Realität in Efrîn gehört aber leider auch, dass der türkische Staat die Assimilations- und Ausbeutungspolitik, die er seit Jahrzehnten in Nordkurdistan realisiert, nun auch auf Efrîn überträgt. Die kurdische Identität, Kultur, Sprache und Geschichte ist einer ernstzunehmenden Gefahr ausgesetzt. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wird die demographische Zusammensetzung der Region gewaltsam verändert. Die Lokalbevölkerung wurde in großen Teilen vertrieben. Die Übriggebliebenen sind Drohungen, Entführungen und Folter ausgesetzt. Anstelle der Vertriebenen werden die Angehörigen der islamistischen Milizen angesiedelt, die mit der Türkei kooperieren. Auf diese Weise soll die Identität Efrîns vollständig ausgelöscht werden.

Der Widerstand gegen die Besatzung ist vielfältig. Zunächst wurde über zwei Monate hinweg ein militärischer Widerstand geleistet. Die zur Flucht gezwungene Bevölkerung von Efrîn befindet sich seit Anbeginn der Besatzung im Widerstand. Sie leistet gegen die äußerst schwierigen Lebensbedingungen in der Şehba-Region Widerstand. Wir als Bewegung leisten auf politischer, diplomatischer, ökonomischer und organisatorischer Ebene Widerstand. Und letztlich dauert der militärische Widerstand gegen die Besatzer Efrîns weiter an. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit unserem Willen zum Widerstand Efrîn wieder befreien werden. Dieses Ziel ist ein zentraler Aspekt all unserer Arbeiten. Am Ende werden diese Bemühungen von Erfolg gekrönt werden. Daran haben wir keinen Zweifel und das kann auch der Feind nicht verhindern.

Ein weiteres Thema auf der Ebene des bewaffneten Kampfes ist der IS. Geht von dieser Organisation aktuell noch eine Gefahr aus?

Die Mentalität des IS besteht weiter und stellt eine Gefahr dar. Auch wenn die Organisation militärisch besiegt worden ist, agiert sie in Form von schlafenden Zellen aus dem Untergrund heraus. Das ist nicht nur eine Gefahr für Rojava sowie Nord- und Ostsyrien, sondern für die gesamte Welt. Aus diesem Grund muss der gemeinsame Kampf gegen den IS, so wie er bislang geführt wurde, auch gegen die Geisteshaltung dieser Organisation sowie gegen ihre Unterstützer geführt werden. Nur so kann ein endgültiger Sieg über den IS erlangt werden. Andernfalls kann sich die Organisation neuorganisieren und wieder zum Problem werden.

Und gibt es eine Lösung für die gefangengenommenen IS-Mitglieder?

Tatsächlich stellen die Gefangenen eine große Belastung für die Verwaltung von Nord- und Ostsyrien dar. Es sind sehr viele Gefangene, von denen eine ernstzunehmende Gefahr ausgeht. Ihre Geisteshaltung ist gefährlich. Deshalb beschäftigen sie auch die internationale Staatengemeinschaft. Die Länder, deren Staatsbürgerschaft die Gefangenen haben, sollten sich verantwortlich fühlen. Sie sollten sie von hier rausholen. Die Verwaltung von Nord- und Ostsyrien hat ein entsprechendes Angebot an die Länder gemacht.

Es gibt doch auch den Vorschlag eines internationalen Tribunals?

Das ist richtig. Wir haben vorgeschlagen, dass mit den Vereinten Nationen und den internationalen Mächten ein internationales Tribunal errichtet wird, vor das die IS-Mitglieder gestellt werden. Es geht nicht nur um die Personen, die in den Reihen des IS gekämpft haben. Auch diejenigen Kräfte und Staaten, welche diese Organisation unterstützt haben, müssen ans Licht gebracht werden.  Wie ist der IS entstanden, für welche Verbrechen hat er sich verantwortlich gemacht, welche Folgen hatten diese Verbrechen, all das muss aufgearbeitet werden. Natürlich müssen die Täter auch für die von ihnen begangenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

Auf internationaler Ebene haben die Gespräche von Genf und Astana zu keiner Lösung für Syrien geführt. Wie sollte es auf dieser Ebene Ihrer Meinung nach weitergehen?

Die Genfer Gespräche sind an die Wand gefahren. Die dort eingeladene Opposition hatte über eine gewisse Zeit inner- und außerhalb Syriens eine bestimmte Einflusskraft. Doch diese hat sie in Syrien längst verloren. Deshalb werden sie vom Regime auch nicht mehr ernst genommen. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt wurde diese Opposition auch von der Türkei unterstützt. Sie kontrollierten einige Städte in Syrien. Dann wurden sie allerdings von Ankara fallengelassen. In Ghouta, Homs, Hama, Aleppo und nun auch in Idlib ist die Opposition von der Türkei im Stich gelassen worden. Eben weil die Opposition zu sehr auf die Türkei setzte, hat sie heute keine Bedeutung mehr.

Auch die Gespräche in Astana haben keine Einflusskraft. Dort kamen Russland, die Türkei und der Iran zusammen. Doch seit der Operation in Idlib haben diese Gesprächsrunden keine Bedeutung mehr.

Wir haben von Anfang an dafür plädiert, dass Friedensgespräche unter dem Dach der UN Sinn machen. Heute sind wir davon überzeugt, dass eine Wiederbelebung der Genfer Gespräche, an denen auch wir beteiligt sind, im Sinne des Friedens in Syrien wären. Alle übrigen Akteure des syrischen Bürgerkriegs haben ihre einstige Bedeutung eingebüßt. Nun muss der Frieden zwischen uns und dem Regime ausgehandelt werden.

Und gibt es vor diesem Hintergrund auch direkte Gespräche zwischen Ihnen und Damaskus?

Unter der Einbindung eines Vermittlers stehen wir auch der Option, direkte Gespräche mit Damaskus zu führen, nicht abgeneigt gegenüber. Es gab auch bereits einige Bemühungen in diese Richtung. Doch das Regime in Damaskus hat dies nicht akzeptiert. Die Gesprächskanäle wurden gestoppt und die Bedingungen für einen Dialog aus der Welt geschaffen. Aktuell gibt es daher keinen Dialog. Doch wir wollen nochmals unterstreichen, dass wir im Sinne einer politischen und friedlichen Lösung in Syrien bereit sind, mit allen Akteuren zu sprechen, die hierauf Einfluss nehmen können.

Und was ist ihre Haltung zu der Errichtung einer internationale Sicherheitszone?

Wir beobachten die Diskussionen hierzu sehr aufmerksam. Die Idee wird ja weiterhin von der Türkei, den USA und anderen Kräften der Koalition diskutiert. Es werden hierzu auch Gespräche mit der Verwaltung Nord- und Ostsyriens geführt. Es fanden einige Sitzungen zu dem Thema statt. Doch bisher herrscht noch keine Klarheit vor. Das Thema wurde also in den öffentlichen Raum geworfen, doch wie es realisiert werden soll, weiß noch niemand. Doch die Debatten dauern an. Die USA und einige europäische Länder wollen an einer internationalen Sicherheitszone partizipieren. Aus ihren Vorschlägen geht hervor, dass die Verantwortlichkeit für die Zone nicht der Türkei, sondern einem internationalen Bündnis übergeben werden soll. Wir haben zu diesem Thema auch unsere Bedingungen vorgelegt. Einige der Bedingungen betreffen die Situation von Efrîn, andere die mögliche Rolle der Türkei in einem solchen Vorhaben. Doch wie gesagt, vieles ist noch im Unklaren. Und es wird noch einige Zeit brauchen, bis das Ganze klarer wird.