„Die Türkei versucht mit aller Macht, die Selbstverwaltung zu behindern“

Sema Bektaş von der Verhandlungsdelegation der „Parteien der geeinten Nation Kurdistan“ (PYNK) spricht über die Stagnation der Verhandlungen mit dem PDK- und türkeinahen sogenannten kurdischen Nationalrat ENKS.

Der sogenannte kurdische Nationalrat ENKS, der in Nordsyrien, aber auch international aktiv ist, ist ein Ableger der eng mit dem türkischen Staat kollaborierenden südkurdischen Regierungspartei PDK. Er verfügt selbst über enge Verflechtungen mit dem türkischen Geheimdienst MIT und seine Vertreter sind gerngesehene Gäste auf Veranstaltungen des AKP-Thinktanks SETA. Insbesondere in Europa versucht der ENKS die diplomatische Arbeit der nordostsyrischen Selbstverwaltung und die Bemühungen um Anerkennung der Region zu hintertreiben. Im Rahmen des Projekts der kurdischen Einheit wurden mehrere Anläufe unternommen, den ENKS in die Selbstverwaltung einzubeziehen. Die „Parteien der geeinten Nation Kurdistan“ (PYNK) sollten eine Plattform für die Beteiligung von Organisationen wie dem ENKS sein. Obwohl sich der ENKS immer wieder über angebliche politische Ausgrenzung und Verfolgung in Nord- und Ostsyrien beklagt, blockiert er unter immer neuen und offensichtlich vorgeschobenen Bedingungen die Gespräche. Die Nachrichtenagentur Mezopotamya sprach mit Sema Bektaş von der Verhandlungsdelegation der PYNK über die Hintergründe der Blockadehaltung des ENKS.

Es finden keinerlei Gespräche mit dem ENKS statt“

Nach dem Beginn der Gespräche mit dem ENKS wurden diese direkt vor den US-Wahlen vom ENKS abgebrochen, sagt Bektaş und berichtet, dass im Moment keinerlei Gespräche mit dem ENKS stattfänden. Bektaş erinnert daran, dass die PYNK ihre Bereitschaft dafür dem ENKS gegenüber bekundet habe. Der ENKS habe jedoch keine Willensbekundung in diese Richtung abgegeben. Es hätten jedoch in der letzten Zeit Treffen der USA mit den PYNK und dem ENKS stattgefunden, in denen die USA darauf drängten, die Gespräche wieder aufzunehmen. Auch Vertreter der südkurdischen Regierung seien bei diesen Gesprächen anwesend gewesen.

ENKS blockiert Gespräche

Der ENKS steht jedoch unter massivem öffentlichen Druck. Das Bündnis befindet sich in einem permanenten Spaltungsprozess, bei denen Fraktionen, die Kompromisse mit der Selbstverwaltung für notwendig halten, ausgeschlossen werden oder selbst austreten. Die Bevölkerung und auch das massiv geschrumpfte Klientel des ENKS hält in überwältigender Mehrheit Gespräche mit der Selbstverwaltung, insbesondere angesichts der aktuellen Lage, für dringend notwendig. Da der ENKS jedoch aufgrund von türkischem Druck und Anordnung der südkurdischen PDK nicht dementsprechend agieren kann, versteigt er sich in immer absurdere Vorwände, um Gespräche abzulehnen. Bektaş berichtet: „Sie sagen: ‚Ihr habt dieses oder jenes über die Peschmerga gesagt, ihr müsst euch entschuldigen.‘ Oder sie haben gesagt: ‚Lasst uns bis zum Ausgang der US-Wahlen warten und die neue Mittelostpolitik der USA zuerst analysieren.‘ Es fielen auch Aussagen wie: ‚Die Situation in Syrien ist nicht gut. Wenn Assad geht, kommt an seiner Stelle die Opposition an die Macht.‘ Da sie auch in der syrischen Opposition sind, machten sie daraus ein Hindernis für uns. Es handelt sich aber einfach nur um Ausreden, um keine Treffen stattfinden zu lassen. Sie wollen immer noch zuerst die Mittelostpolitik der USA begreifen und sich dann ‚dementsprechend verhalten‘.“

Bektaş beschreibt die Gespräche mit dem ENKS als von Anfang an sehr schwer. Der ENKS habe immer wieder Themen, über die man sich zuvor geeinigt habe, erneut zu Diskussion gestellt und versucht, auf diese Weise die Gespräche zu blockieren.

Der ENKS stellt Forderungen wie die Auflösung der Selbstverteidigungseinheiten, die Einstellung von muttersprachlicher Bildung an den Schulen, eine Änderung des Gesellschaftsvertrags und unter anderem auch die Abschaffung des Modell des Ko-Vorsitzes. Bektaş kommentiert diese Forderungen: „Sie sagen: Einigen wir uns in diesen Dingen, dann können wir weitermachen. Aber wir hatten uns in diesen Fragen bereits geeinigt. Wir sagten, dass im Falle einer Einigung bei Bedarf notwendige Änderungen vorgenommen würden. Jetzt sagen sie: ‚Lasst uns den Gesellschaftsvertrag ändern.‘ Die Kurden allein können den Vertrag nicht ändern. Alle Völker haben ihn zusammen geschaffen.“

Wozu haben wir die Revolution gemacht?“

Bektaş betont, der ENKS greife mit seinen Forderungen nach einem Ende des muttersprachlichen Unterrichts die Grundlagen der Revolution an. Sie fährt fort: „Seit Beginn der Revolution wurden Tausende von Schulen und Dutzende von Universitäten gegründet. Nach zehn Jahren sollen wir jetzt zurückgehen und den Kindern Unterricht geben, wie es das Regime tut? Warum haben wir dann die Revolution gemacht? Deshalb ist die Öffentlichkeit so wütend. Auch diese Forderungen sind nicht akzeptabel. Tausende von Schülerinnen und Schülern lernen über ihre Kultur und Geschichte in ihrer eigenen Sprache. Jetzt sollen wir zu einer Ausbildung zurückkehren, die unsere Geschichte, unsere Sprache, unsere Kultur nicht einschließt. Dafür haben wir die Revolution nicht gemacht. Wir akzeptieren das nicht, und die Gesellschaft auch nicht. Das sind die Errungenschaften der Revolution.“

Sie trennen Kurden und Araber“

Die Forderung des ENKS, die überwiegend kurdische besiedelten Gebiete allein in kurdische Hände zu geben und die anderen Regionen zu vernachlässigen, kritisiert Bektaş ebenfalls scharf: „Diese Regionen sind nicht vollständig kurdisch. Wir haben eine gemeinsame Verwaltung mit Kurden, Arabern, Suryoye und den anderen Völkern aufgebaut. Jetzt können wir nicht sagen, dass die Kurden die kurdischen Gebiete regieren sollten. Wenn wir das tun, dann widersprechen wir unserem eigenen Projekt der autonomen Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltung wird überall auf der Welt begrüßt, denn sie basiert darauf, dass sich alle Völker, alle Weltanschauungen, alle Unterschiedlichkeiten gleichberechtigt repräsentieren. Diese Selbstverwaltung beruht auf den Prinzipien der Demokratie. Daher widerspricht die Einrichtung einer kurdischen Herrschaft unserem Projekt. Wir waren uns in diesen Dingen einig. Es gibt bereits eine Verwaltung, wir müssen darüber nachdenken, wie wir sie stärken und ihr Nachhaltigkeit verleihen können.“

Die Menschen haben keinen Glauben mehr an die Gespräche“

Die Politikerin meint, dass die Gespräche mit dem ENKS eigentlich zu 90 Prozent abgeschlossen gewesen seien und dass, wenn der ENKS nicht bereits abgeschlossene Punkte wieder auf die Tagesordnung gesetzt hätte, die Verhandlungen längst erfolgreich beendet worden wären. Das Volk sei mittlerweile von den Gesprächen enttäuscht und glaube nicht mehr an einen Erfolg.

Historische Chance“

Dennoch seien die PYNK weiterhin bereit, jederzeit an den Verhandlungstisch zurückzukehren, denn die „kurdische Einheit“ sei der „Schlüssel zur Lösung der Probleme Syriens“. Bektaş warnt davor, dass eine Spaltung der Kurden, Araber und Suryoye die Probleme vertieft. Stattdessen gäbe es jetzt eine „historische Chance“: „Die Kurden haben das Projekt der demokratischen Autonomie. Die Welt ist von diesem Projekt inspiriert. Deshalb handeln wir im Bewusstsein der Bedeutung der kurdischen Einheit. Unsere Stärke liegt in unserer Einheit.“

Appell an den ENKS

Bektaş appelliert: „Wir sind bereit. Unser Appell an den ENKS lautet, mit der Situation verantwortungsbewusst umzugehen. Das ist sowohl wichtig für die Menschen in allen vier Teilen Kurdistans als auch für die Zukunft Syriens. Wir gehen im Sinne dieser Verantwortung vor.“

Das eigentliche Hindernis ist die Türkei“

Das eigentliche Hindernis für Anerkennung des Status der Selbstverwaltung auf internationaler Ebene und ihrer Teilnahme an Treffen zur Lösung der Probleme Syriens sei die Türkei, sagt Bektaş: „Wir wissen, dass die Bemühungen der Türkei der wichtigste Grund sind, warum die Selbstverwaltung bisher nicht anerkannt wurde. Die Türkei nimmt an allen stattfindenden Treffen teil. Wenn versucht wird, etwas zu tun, muss zunächst die Türkei überzeugt werden. Sie hindert die Kurdinnen und Kurden daran, an Sitzungen teilzunehmen, und hetzt gegen uns auf.“

Wandel in Diplomatie und Ideen

Bektaş schließt: „Dennoch wird der Widerstand und das demokratische System, das von der Selbstverwaltung aufgebaut wird, überall auf der Welt mit großer Hoffnung, ja sogar Neid betrachtet. Viele Staaten, insbesondere alle europäischen Staaten, entsenden immer wieder Vertreter, die sowohl Beziehungen aufbauen als auch die Lage beobachten. Durch diese Treffen hat sich die Haltung vieler Staaten geändert. Dies ist eine wichtige Errungenschaft. Wir versuchen nun, mit aller Kraft die Errungenschaften der Revolution zu verstetigen.“