Die Revolution vom 19. Juli beruht auf dem Erbe eines langen Kampfes

Der stellvertretende Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Hesen Koçer, spricht über die Bedeutung der Revolution vom 19. Juli. Er sieht die Revolution von Rojava als das Ergebnis eines langen Kampfes.

Am 19. Juli jährt sich der Beginn der Revolution von Rojava. Am 19. Juli 2012 entstand mit dem Aufstand in Kobanê ein emanzipatorisches, gesellschaftliches Projekt, das weltweit die Hoffnung der Menschen auf sich zieht. Hesen Koçer, der stellvertretende Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, hat sich im ANF-Interview zur Bedeutung und Entwicklung der Revolution geäußert.


Können Sie die Umstände erklären, unter denen die Rojava-Revolution stattfand, und die Gründe, die zu den Entwicklungen vom 19. Juli führten?

Jede Revolution entsteht unter spezifischen Bedingungen, so auch die Revolution von Rojava. Wenn wir die vorrevolutionären Bedingungen, die Unterdrückung und die Repression des Baath-Regimes gegen die Gesellschaft betrachten, dann gab insbesondere die Verleugnungspolitik und das Verbot der kurdischen Sprache und Kultur den Ausschlag.

Darüber hinaus hat auch das arabische Volk, das im Baath-Systems unterdrückt wurde und Demokratie brauchte, seine Stimme gegen dieses System erhoben. Je stärker der Druck, desto größer ist natürlich die Intensität der Reaktion. Revolutionen treten unter solchen Umständen auf, und so begann die Rojava-Revolution.

Die Revolution von Rojava wurde auf der Grundlage des Erbes langjähriger Erfahrungen entwickelt. Die kurdische Freiheitsbewegung hatte einen großen Beitrag zum Patriotismus und zur Schaffung eines nationalen Geistes geleistet. All das war die Grundlage dafür, dass die Revolution in Nord- und Ostsyrien auf einem soliden Fundament stattfinden konnte.

In Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien hatte eine Welle des Wandels begonnen. Was war diese Welle des Wandels? Die Menschen erhoben sich gegen diktatorische Regime und Systeme. Diese Welle, die mit dem Protest der Bevölkerung begann, brach mit seinen Demonstrationen das Schweigen, das im Mittleren Osten herrschte. Das Volk erkannte, dass diese Systeme verändert werden müssten. Diese Systeme konnten keine Antworten mehr für die Gesellschaft geben, im Gegenteil, sie ignorierten die Völker und leugneten ihre Sprache und Kultur. Das arabische Volk wurde ebenso ignoriert. Der Staat war in die Hände einer sehr kleinen Schicht gefallen und diese beherrschte die Gesellschaft. Das war der Grund für die Revolution in Syrien.

Die ersten Funken der syrischen Revolution entzündeten die Ereignisse vom 15. März 2011. Was also unterschied die Revolution vom 19. Juli von dem Aufstand vom 15. März?

Wir können die Ereignisse, die am 15. März 2011 begannen, nicht als Revolution für Demokratie und Freiheit, sondern eher als einen Volksaufstand betrachten, der einen Wechsel der Herrschaftselite forderte. Die bestehende Opposition und die Proteste stellten keine Antwort auf die Bedürfnisse der Gesellschaft dar. Das Hauptproblem war das Fehlen einer demokratischen Opposition. Die meisten dachten entlang einer staatsfixierten Perspektive. Es ging eher darum, den Präsidenten abzusetzen und sich selbst an seinen Platz zu setzen. Das hätte in der Gesellschaft keine Änderung hervorgebracht.

Die Denkweise, den Präsidenten des Regimes gehen zu lassen und seinen Platz einzunehmen, brachte keine Veränderungsperspektive für die Gesellschaft. Aufgrund dieses Ansatzes ging die Revolution in die Irre und ihre Linie wurde zu einer ausschließlich militärischen. So wurden die Erwartungen des Volkes nicht erfüllt.

Die Tatsache, dass sich das Baath-Regime nicht veränderte, sich nicht reformierte, und dass die bestehende Opposition von Kräften von außen getragen wurde, hat die gesellschaftlichen Erwartungen enttäuscht, Syrien in ein tiefes Chaos gestürzt und ein politisches Vakuum geschaffen.

Zu Beginn der Revolution begannen die Demonstrationen und Kundgebungen vor den Moscheen. Dies schuf ein Bild, als ob die Muslimbruderschaft den Protest anführte. Diese Demonstrationen fanden mit Unterstützung der arabischen Staaten und entsprechenden Geldtransfers statt.

Diese Kreise versammelten sich nur freitags vor Moscheen und sagten, sie seien gegen das Baath-Regime, aber sie hatten keine klare Strategie. Sie sagten: „Das Baath-Regime muss gehen, weil das Regime das Volk unterdrückt", aber sie hatten keine Alternative. Die syrische Revolution ist bisher gescheitert, weil sie den Menschen keine Hoffnung bot.

Was jedoch in Nordsyrien geschah, war etwas ganz anderes als in Dara. Das Volk mag das gleiche sein, aber die Strategie der Revolution war eine andere. Die Strategie, die hier entwickelt wurde, basiert auf den Menschen. Ihr Ziel war es nicht, den Staat zu stürzen oder an die Stelle des Regimes zu treten. Das Ziel war der Aufbau einer demokratischen, ethischen und politischen Gesellschaft. und Persönlichkeiten zu entwickeln, die die demokratische Kultur weiterbringen.

Diese Ziele wurden durch die Gründung der autonomen Selbstverwaltung umgesetzt. Die sich entwickelnde Revolution in Nord- und Ostsyrien hatte eine klare Strategie, selbst die Demonstrationen, die in Rojava stattfanden, als die Revolution 2011 begann, hatten einen anderen Charakter. Die Grundlage waren die Organisierung und das Empowerment der Gesellschaft. Mit dem Aufbau von Institutionen und der Gründung von Kommunen und Räten wurde die Revolution von Beginn an zu einem neuen Modell. Dabei sollte diese Revolution nicht nur Modellcharakter für Nord- und Ostsyrien haben, sondern gleichzeitig auch für den gesamten Mittleren Osten. Es war das erste Mal, dass sich eine solche Revolution im Mittleren Osten entwickelt hat, und das auch weiterhin tut. Natürlich gibt es Mängel, aber die Selbstverwaltung basiert hauptsächlich auf der Kraft des Volkes und der demokratischen Gesellschaft. Unser Modell der Revolution gründet auf einer ökologischen, geschlechterbefreiten und demokratischen Gesellschaft, in der alle Völker zusammenleben können. In diesem Sinne war die Strategie der Rojava-Revolution eine ganz andere.

Gab es einen besonderen Grund, warum die Revolution vom 19. Juli in Kobanê begann? Und warum wurde das Baath-Regime zuerst aus der Stadt vertrieben, gibt es dafür einen bestimmten Grund?

Die Kräfte von außen und ihre bewaffneten Gruppen wollten kein neues Modell und keine Revolution in Nordsyriens, die nicht an ihren Interessen ausgerichtet ist. Von Beginn der Revolution an war ihr Ansatz: Entweder du bist auf der Seite des Regimes oder der Opposition. Auf dieser Grundlage griffen sie uns an. Sie verbreiteten Propaganda, in der es hieß, wir seien Agenten des Regimes. Wir sehen, welches Ergebnis sie mit ihrer Forderung, Assad solle das Land verlassen, erzielt haben. Das Regime ist noch da und sie sind diejenigen, die Syrien verlassen haben. Einige von ihnen wurden zu Profiteuren des Krieges.

Sie verdienten im Namen der Revolution Geld mit dem Blut des syrischen Volkes. Damals erklärten sich alle zu Revolutionären und sagten, sie würden eine Revolution durchführen. Sie griffen Kobanê, Rimêlan, Dêrik und Qamişlo im Namen des Krieges mit dem Baath-Regime an. Um diese Angriffe zu verhindern, haben wir das Baath-Regime aus unseren Gebieten entfernt. Denn wir wussten, dass sie unsere Städte angreifen würden, weil sie den Krieg mit dem Regime als Vorwand benutzten. Wir verhinderten den Angriff und begannen die Revolution in unseren eigenen Städten.

Ich würde sagen, die Rojava-Revolution vom 19. Juli geschah über Nacht. Nach der Entfernung der staatlichen Institutionen aus Kobanê sollte das Volk sich selbst verwalten. Wir haben die staatliche Institutionen nicht zerstört, wir haben sie weiterentwickelt. Wir haben Einrichtungen aufgebaut, die der Gesellschaft gehören. Dutzende von Institutionen, vor allem wirtschaftliche, wurden gegründet, weiterentwickelt und in den Dienst des Volkes gestellt.

Und ich möchte hinzufügen, dass die Revolution vom 19. Juli genau zum richtigen Zeitpunkt begann. Wenn sie später oder früher gewesen wäre, hätten wir kein stabiles Ergebnis schaffen können. Der Ort, der Zeitpunkt und die Bedingungen waren richtig und es wurde dementsprechend vorgegangen. Unsere Politik und unsere strategische Weitsicht erlaubten es uns, in diesem Moment zu beginnen. Der 19. Juli begann in Kobanê und setzte sich in Cizîrê fort.

Die ersten Schulen wurden in Efrîn und die ersten Kommunen in Kobanê aufgebaut. Unsere erste Stadtverwaltung wurde in Qamişlo gegründet. Mit all dem haben wir ein demokratisches und gesellschaftliches System geschaffen. Die Revolution vom 19. Juli beruht auf dem Erbe eines langen Kampfes.