Der türkische Staat verfolgt im besetzten Efrîn eine Politik des Feminizids und Genozids am kurdischen Volk, sagt Cihan Xidro: „Der Angriff auf die HDP und der Mord an Deniz Poyraz unterscheiden sich nicht von den Angriffen, die der türkische Staat seit 2012 mit paramilitärischen Gruppen in Rojava durchführt. Er ist auch nicht unabhängig von dem Geschehen in Efrîn seit März 2018.“
Cihan Xidro ist Vorsitzende des Frauenrats in der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Gegenüber ANF hat sie sich zu dem tödlichen Angriff vom 17. Juni auf die HDP-Zentrale in Izmir geäußert. Sie spricht der Familie Poyraz, der HDP und dem kurdischen Volk im Namen der Frauen und Völker im nordostsyrischen Autonomiegebiet ihr Mitgefühl aus und erklärt: „Deniz Poyraz ist bei einem faschistischen Angriff mit staatlichem Hintergrund ermordet worden. Wir empfinden deswegen große Trauer. Leider handelt es sich nicht um den ersten Fall dieser Art und die aktuelle Politik der Regierung und des Staates zeigen, dass es auch nicht der letzte sein wird. Der Mörder betritt entspannt das 24 Stunden von der Polizei überwachte HDP-Gebäude. Lange Zeit unternimmt niemand etwas. Nach dem Mord an Deniz Poyraz hält die Polizei es nicht einmal für notwendig, dem Täter Handschellen anzulegen. Im Gegenteil, die Mutter von Deniz und die HDP-Mitglieder werden von der Polizei umstellt. Die gleiche Polizei, die kurdische Menschen, Jugendliche, Frauen, HDP-Mitglieder tagelang verhört, führt den Mörder Onur Gencer mit Blitzgeschwindigkeit dem Haftrichter vor. Eigentlich weist alles auf die eigentlichen Täter hin.“
Teil des Genozids am kurdischen Volk
Cihan Xidro weist darauf hin, dass die AKP/MHP-Regierung Krieg gegen das kurdische Volk und alle demokratischen Kräfte führt. Dieser Krieg sei nichts Neues, werde jedoch zunehmend gewalttätiger. Den Mord an Deniz Poyraz bezeichnet Cihan Xidro als Teil der Völkermordpolitik, die der türkische Staat beginnend mit der Gefängnisinsel Imrali im Norden, Süden und Westen Kurdistans umsetzt:
„Seit April 2015 ist die Isolation Abdullah Öcalans verschärft worden. In der Zeit der Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 und hinterher ist der IS für Anschläge auf HDP-Gebäude benutzt worden. Mit Bombenanschlägen auf Kundgebungen sollte die Wählerschaft der HDP eingeschüchtert werden. In den letzten Jahren sind die Ko-Vorsitzenden der HDP, Abgeordnete, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und ganz normale Mitglieder mit fadenscheinigen Begründungen verhaftet worden. Seit dem 24. Juli 2015 finden wieder massive Angriffe auf die Guerilla statt. All diese Angriffe sind zu Besatzungsangriffen geworden. Aktuell läuft eine Invasion in Avaşîn, Zap und Metîna.
Die Türkei hat zwischen 2012 und 2016 Stellvertreterkräfte wie die FSA, al-Nusra und den IS für ihre Angriffe auf Rojava genutzt. Ab 2016 hat sie diese Kräfte auf ihre Seite geholt und ist in Dscharablus und Şehba eingedrungen. Sie hat Efrîn und Serêkaniyê besetzt. In all diesen Gebieten wird ein Völkermord an den Kurden verübt. In der Türkei werden Islamisten, die für den Tod von Tausenden Menschen verantwortlich sind, zu Hausarrest verurteilt, aber die HDP ist im Kobanê-Prozess angeklagt. Die HDP ist mit den Stimmen des kurdischen Volkes und demokratischer Kreise in der Türkei ins Parlament eingezogen und wird massiv angegriffen. Diese Angriffe müssen als Gesamtheit begriffen und dementsprechend abgewehrt werden.“
„Islamisten sind auf Rojava losgelassen worden“
Cihan Xidro verweist auf die Fotos, die der Mörder Onur Gencer in den sozialen Medien veröffentlicht hat und die ihn bewaffnet in Syrien zeigen: „Wir sind lebende Zeugen dessen, was diese paramilitärischen Kräfte der Türkei in Syrien und Rojava getan haben. Von Beginn an war es der türkische Staat, der islamistische Fraktionen wie die FSA, al-Nusra und den IS auf uns losgelassen hat. Durch das, was wir selbst in Syrien erlebt haben, kennen wir den Auftragsmörder Onur Gencer und den hinter ihm stehenden türkischen Staat genau.“
Wie die von ihm veröffentlichten Fotos zeigen, war Onur Gencer offensichtlich Teil der paramilitärischen Kräfte der Türkei in Syrien. Cihan Xidro berichtet, wie sie selbst die Angriffe dieser Gruppierungen erlebt hat: „2012 und 2013 sind Islamistengruppen wie die Al-Nusra-Front, Ahrar al-Sham oder Liwa al-Fatih auf uns Kurden gehetzt worden. Ich habe dieses Vorgehen der Türkei in der Region zwischen Azaz und al-Bab miterlebt. Die türkischen Geheimdienstler kamen an und haben Versammlungen mit den bewaffneten Gruppen in Moscheen abgehalten. Diese Gruppen haben sie dann die Kurden angreifen lassen. Die Türkei hat 2013 21 dieser Banden in einem Operationszentrum zusammengeführt. Zuerst wurde am 27. Juli 2013 Til Eran und Til Hasil angegriffen. Fünfzig Menschen wurden vor den Augen ihrer Angehörigen niedergemetzelt. Viele davon waren Frauen und Kinder. 400 Personen sind verschleppt worden. Dutzende davon waren Frauen, die bis heute vermisst werden. In der gleichen Zeit fanden Angriffe auf al-Bab, Azaz und Dscharablus sowie auf Familien in Girê Spî, Raqqa und Minbic statt. Bei den Angriffen der FSA galt die Devise, dass kurdisches Eigentum, kurdisches Leben und kurdische Frauen vogelfrei sind. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie türkische Geheimdienstler zuerst in der FSA waren und später sämtlich zum IS wurden und uns angegriffen haben. Die Kurden werden seit 2013 von den paramilitärischen Kräften und islamistischen Banden der Türkei getötet. Frauen sind ermordet oder gewaltsam verschleppt worden. Unsere Häuser wurden geplündert, unsere Dörfer dem Erdboden gleichgemacht.“
„Die Angriffe auf Rojava und die HDP haben denselben Hintergrund“
Nach den Angriffen der vom türkischen Staat gesteuerten Banden ist Cihan Xidro nach Efrîn geflohen. Der Ort galt damals als Stadt der Frauen und der Demokratie. Durch die am 20. Januar 2018 gestartete Invasion und die türkische Besatzung ist Efrîn inzwischen zu einem Zentrum des Feminizids und Genozids am kurdischen Volk geworden, sagt die Vorsitzende des Frauenrats der Autonomieverwaltung. Die HDP sei von ihrer Struktur her eine demokratische Frauenpartei, die sich für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetze. Der Angriff auf die HDP sei daher aus demselben Grund wie die Invasion in Efrîn und weiteren Teilen von Rojava erfolgt: „In Efrîn gab es ein demokratisches System. Es war eine kurdische Stadt, die als demokratisches Zentrum aller Völker und Frauen galt. Deshalb stand sie im Fokus der Angriffe des türkischen Staates und der von ihm gesteuerten Banden. Am 20. Januar 2018 haben Tausende Soldaten und islamistische Söldner mit Kampfjets und Panzern angegriffen. Ich war bis zum letzten Tag dort. Am 18. März wurde Efrîn vollständig besetzt und wir konnten uns gerade noch retten.
In Efrîn werden Kurden auch heute noch ermordet und vertrieben. Frauen werden getötet, verschleppt und vergewaltigt. Eigentlich zeigt das Vorgehen in Efrîn konkret, was der türkische Staat allen Kurden und Frauen antun möchte. In Efrîn ist der Leichnam der YPJ-Kämpferin Barin Kobanê geschändet worden. Während der Besatzung von Girê Spî und Serêkaniyê ist Hevrîn Xelef von den Banden der Türkei brutal ermordet worden. Der türkische Staat will seine Besatzungszone immer noch ausweiten und vor allem politisch aktive Frauen werden bedroht. Der Mord an Deniz ist wie die Morde an anderen Freundinnen gleichzeitig ein rassistisch-staatliches Massaker und ein Feminizid. Das System, das die Kurden vernichten will, will auch gleichermaßen die willensstarke Haltung von Frauen zerstören.“
„Wir müssen gemeinsam kämpfen“
Cihan Xidro geht davon aus, dass die Angriffe des türkischen Staates auf die Kurden in allen Gebieten heftiger werden. „Als kurdisches Volk und als Frauen müssen wir uns miteinander solidarisieren. Niemand sollte denken, dass es nichts mit ihm oder ihr zu tun hat, wenn die Kurden in den Bergen, in der Türkei oder in Syrien angegriffen werden. Wir haben zu dieser Frage reichlich Erfahrungen gemacht. Der Mörder hat alle Kurden im Visier. Dementsprechend müssen wir vorgehen. Wir müssen zusammenhalten und uns selbst und unsere Zukunft gemeinsam verteidigen“, so die Vorsitzende des Frauenrats in der nordostsyrischen Selbstverwaltung.