Cihan Xidro - eine widerständige Frau, die Mut macht

Cihan Xidro ist Vorsitzende des Frauenkomitees von Nord- und Ostsyrien. Sie erlebte die Besatzung von Azaz und Bab, die Befreiung von Şehba, ließ sich aus Efrîn bis zuletzt nicht evakuieren und hilft jetzt den vertriebenen Frauen aus Serêkaniyê.

Mit ihren 27 Jahren zählt Cihan Xidro bereits zu den Vorreiterinnen der Revolution von Rojava. Die dreifache Mutter ist Vorsitzende des Frauenkomitees der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien. Das Leben von Xidro, die in Azaz geboren und aufgewachsen ist, veränderte sich schlagartig mit dem Aufstieg von Jabhat al-Akrad (kurdisch Enîya Kurdan, deutsch Brigade der Front der Kurden) im Jahr 2013 und den parallel erfolgenden Angriffen pro-türkischer Milizen aus der Region.

Cihan Xidros Ehemann ist Kommandant von Jabhat al-Akrad. Er kämpfte bereits gegen Milizen wie Ahrar al-Sharqiya, al-Nusra, den sogenannten IS und andere islamistische Gruppierungen, die vom türkischen Staat unterstützt werden. Auch nahm er am Widerstand gegen die Invasion von Efrîn teil. Die Geschichte dieser Frau allerdings, die bis zum Fall von Efrîn stur blieb und die Stadt nicht verließ, stattdessen jeden Tag unter Bomben nach Şehba fuhr, um ihre Aufgaben im Zivilrat nicht zu vernachlässigen, ist einfach bemerkenswert.

Ich lernte Cihan Xidro 2017 kennen, als ich für einen Artikel über 74 Dörfer in der Şehba-Region recherchierte, die von den revolutionären Kräften aus der IS-Herrschaft befreit worden waren. Zuerst telefonierten wir, später trafen wir uns auch persönlich. So bekam ich die Möglichkeit, in Şehba und Efrîn neben ihr auch die anderen Familien von Jabhat al-Akrad kennenzulernen.

Cihan Xidro war damals erst 24 und Ko-Vorsitzende des Zivilrats von Şehba. Als junge Mutter von drei Kindern pendelte sie täglich zwischen Efrîn, wo sie wohnte, und ihrer Arbeitsstätte in Şehba. Die Region war erst vor einem Jahr vom IS befreit worden, fast täglich schlugen Bomben ein. Einen Kindergarten, der sich um ihre Kinder hätte kümmern können, gab es nicht.  

Ehemann an der Front, sie selbst im Zivilrat

Ich bemerkte schon damals, was für eine bemerkenswerte Frau Cihan Xidro war. Sie hatte eine entschlossene, moralische Art, arbeitete zielbewusst und knüpfte Beziehungen zu allen Kreisen. Sie schien sich fast allein um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern, da ihr Mann fast ständig an der Front war. Cihan und ihr Mann Cemal hatten bereits zahlreiche Hürden überwunden und ihr Leben der Zukunft ihrer Kinder und der Gesellschaft gewidmet.

Cihans Mutter ist Albanerin, ihr Vater ist Kurde. Sie kam in Tilşehir, einem Dorf in Azaz, zur Welt. Schon im 16. Jahrhundert wurde dort osmanische Stammes- und Siedlungspolitik betrieben, in den 1960er Jahren gliederte die syrische Baath-Regierung Azaz in den sogenannten „Arabischen Gürtel“ ein, um die ethnische Bevölkerungszusammensetzung zugunsten der Araber zu verändern. Dennoch ist die Stadt multiethnisch – neben Arabern und Kurden gibt es eine kleine turkmenische und eine albanische Gemeinde.

Viele der Kurden aus Azaz sprachen früher nur Arabisch und Turkmenisch – ihre Muttersprache kannten die wenigsten. In anderen Regionen Rojavas lebende Kurden zählten sie deshalb zu den Turkmenen. Cihans Vater Hasan Xidro galt nie als Turkmene. In den 1980er Jahren hatte er die kurdische Befreiungsbewegung kennengelernt und zählte zu den ersten Patrioten in Şehba. Er erzog seine Kinder mit dem Bewusstsein für die kurdische Existenz, viele Verwandte schlossen sich in den folgenden Jahren der Guerilla an. Die Sympathie der Familie Xidro für den Freiheitskampf Kurdistans wuchs immer weiter.

Jabhat al-Akrad verändert alles

Cihan war erst 17, als sie Cemal 2010 in al-Bab heiratete. Nur ein Jahr später brach in Syrien der Bürgerkrieg aus. Innerhalb weniger Monate erreichte die Krise erst Cerablus, dann Azaz, al-Bab und schließlich Minbic und Şehba. Bereits Ende 2012 wimmelte es nur so von bewaffneten – größtenteils dschihadistischen und regimetreuen – Gruppen. Vor diesem Hintergrund entschlossen sich einige Araber, Turkmenen, Albaner, Armenier und Kurden im März 2013, die Jabhat al-Akrad zu gründen. Richtungsweisend waren Cihans Mann Cemal, ihre vier Brüder, ein Schwager und ihre Cousins väterlicherseits.

Frauen traten der Jabhat al-Akrad nicht bei, aber sie unterstützten den Kampfverband, wo sie nur konnten. „Die Region ist gemischt. Es gab Gruppen, die äußerst sexistisch waren. Wir Frauen kämpften daher nicht mit der Waffe, sondern an anderen Fronten. Wir kochten und schafften Waffen und Munition an die Stellungen. Ich weiß noch, einmal hatten meine Brüder irgendwo ein altes blaues Fahrzeug aufgetrieben. Damit fuhren sie von Dorf zu Dorf, um die Jabhat al-Akrad bekannt zu machen. Es war ein alter Wagen, der nie von allein ansprang. Jedes Mal, wenn sie losfahren wollten, traten wir alle gemeinsam an, um anzuschieben. Es war die erste Zeit der Gruppe, wir hatten überhaupt kein Geld. Aber gemeinsam taten wir, was uns möglich war“, erinnert sich Cihan.

Cihan Xidro (r.) mit Hevrîn Xelef

Zeitzeugin der Umbrüche

Jabhat al-Akrad, der sich inzwischen nahezu die gesamte Verwandtschaft verbunden fühlte, wuchs innerhalb von wenigen Monaten zu einem ansehnlichen Kampfverband an. Anfangs war die Gruppe Teil der „Freien Syrischen Armee“ (FSA), später kämpfte sie als Komponente des Militärrats von Aleppo, gehörte aber weiterhin der FSA an. Der Türkei war al-Akrad schnell ein Dorn im Auge, es kam zu Spannungen mit anderen FSA-Gruppen, die Rückendeckung aus Ankara genossen. Insgesamt 21 von ihnen schlossen sich auf Anweisung aus dem AKP-Lager zusammen, darunter die Al-Nusra-Front, Ahrar al-Sham, der IS und dem ENKS nahestehende Milizen. Ende Juli 2013 kam es in Aleppo zu den Massakern von Til Eran (Tell Aran) und Til Hasil (Tell Hasil). Dutzende Menschen wurden getötet, hunderte weitere verschleppt. Darauf folgte eine Angriffswelle auf al-Akrad und die kurdische Zivilbevölkerung in Cihans Heimatstadt Azaz, Cerablus, al-Bab, Exterin, Minbic, Raqqa und schließlich Girê Spî.

Kurz vor diesen Angriffen machte Cihan noch eine wichtige Beobachtung: „Der türkische Geheimdienst MIT mobilisierte arabische Bürger gegen Kurden. Bevor sich die 21 Milizen zum Verbund gegen uns zusammenschlossen, eskortierte der MIT seine Leute durch die Dörfer, und ließ sie Antipropaganda gegen Kurden und al-Akrad betreiben. Es gab einen Türken unter ihnen, er nannte sich Abu Dujana. Von seiner MIT-Zugehörigkeit hatten wir schon früher erfahren. Nach einer Weile gehörte er der Führungsriege des IS an.

All die Angriffe damals wurden vom türkischen Staat koordiniert. Nach den folgenschweren Massakern in Aleppo hatte Jabhat al-Akrad die Gefahr erkannt. Deshalb trafen sie Vorbereitungen zum Rückzug.“

MIT und IS auf der Suche nach Cihan Xidro

Während sich die Männer schlagartig aus der Region zurückziehen mussten, harrten Cihan und die anderen Frauen der Al-Akrad-Kämpfer in ihren Dörfern aus. Die ersten Familien verließen über zuvor festgelegte Fluchtwege ihre Wohnorte Richtung Zentral-Aleppo, Şêxmeqsûd und Efrîn. Cihan hielt sich damals mit ihren damals noch zwei Kindern und der Schwiegermutter in Karagöz auf, dem Dorf von Cemal. „Er rief mich an und sagte, dass wir gehen müssen. Per Lautsprecher aus den Moscheen hieß es auf einmal, das Hab und Gut der Kurden sowie ihre Frauen seien ‚halal‘. In unserem Dorf waren außer uns vier noch zwei junge Männer geblieben, die uns vor möglichen Gefahren verteidigen sollten.

Wir erhielten die Nachricht, dass das Dorf von al-Nusra umstellt worden sei. Die Milizen plünderten bereits die Häuser von geflüchteten Kurden, einige wurden sogar in Brand gesetzt. Ich wurde zu dem Zeitpunkt schon überall gesucht. Sie suchten zwar auch mein Haus auf, um Ausschau nach mir zu halten, erkannten mich aber nicht. Unter ihnen war auch Abu Dujana. Ich wartete die Nacht ab, dann brach ich mit meinen Kindern auf und überquerte die Grenze zur Türkei. Cemal wartete schon. Über Gebirgsstraßen erreichten wir Efrîn.“

Ein Bruder bis heute verschollen

Es sei nicht leicht gewesen, die Heimat hinter sich zu lassen, fährt Cihan fort. „Es schmerzte. Und es war verdammt schwer. Bei unserer Ankunft in Efrîn bemerkte ich erst, dass ich mit dem dritten Kind schwanger war. Die gesamte Flucht vor den Dschihadisten über war es mir überhaupt nicht aufgefallen.

Jabhat al-Akrad ließ sich nicht direkt in Efrîn, sondern in den ländlichen Gegenden außerhalb und im Niemandsland Şehba nieder. Dort wurden Camps gegründet, in denen die Befreiung von Şehba geplant wurde. Noch hatte sich noch niemand wirklich aufgerafft. In Gedanken waren wir alle noch bei unseren zurückgelassenen Dörfern.

Wir waren gerade knapp zwei Monate in Efrîn, da wurde ich von einer Nachricht erschüttert. Mein Bruder Ahmet Xidro und vier seiner Freunde waren von der Miliz Ahrar al-Sham gefangengenommen worden. Zuvor war eine Aussprache vereinbart worden. Allerdings erwies sich das vermeintliche Treffen als ein Hinterhalt. Mein Bruder gilt bis heute als vermisst. Wir haben lange Zeit versucht, seinen Aufenthaltsort zu klären. Wir fanden heraus, dass er als Geisel zuerst an al-Nusra weitergereicht wurde. Danach übernahm ihn der IS. Was aus ihm geworden ist, wissen wir nicht.”

Ko-Vorsitzende des Zivilrats von Şehba

Sich von den Schmerzen zu erholen, die die erzwungene Flucht bei ihr verursachten, sei sehr hart gewesen, sagt Cihan. Aber die Menschen in Efrîn gaben ihr Hoffnung und machten Mut. „Die Bevölkerung war sehr gut organisiert, insbesondere die Frauen. Auch wir Vertriebene, für die Şehba ein sicherer Hafen wurde, trieben unsere Organisierung voran. Nach nur sechs Monaten riefen wir die Gründung des Zivilrats aus. In dieser Phase merkte ich erst, wie stark ich als Frau bin. Der Stärke der Frauenorganisierung wurde ich erst in Efrîn bewusst.

Manchmal wurden wir von Schmerzen zerrissen. Aber wir hörten niemals auf davon zu träumen, unsere Regionen zu befreien. Die Schwangerschaft mit dem dritten Kind durchlief ich ohne meinen Mann. Er kämpfte damals gegen den IS. Dennoch gaben wir uns gegenseitig Halt. Mitte 2016, als die revolutionären Kräfte, unter deren Dach auch Jabhat al-Akrad vereint war, die Offensive zur Befreiung von Şehba starteten, folgten wir ihnen Schritt um Schritt in die Dörfer. Als alle 74 Ortschaften befreit waren, wurden alle Komponenten des Zivilrats nach Şehba verlagert. Ich lebte in Efrîn, fuhr aber jeden Tag hin und her.“

58 Tage Widerstand in Efrîn

Nach Beginn der türkischen Invasion am 20. Januar 2018 begegnete ich Cihan in Efrîn. Sie beharrte darauf, in der Stadt zu bleiben, und nahm jeden Tag den Weg nach Şehba auf sich, während am Himmel über ihr Kampfflugzeuge der türkischen Armee kreisten. Über die Zeit damals sagt sie: „Efrîn ist ein Fanal. Die Region hat einen besonderen Stellenwert, und zwar für jeden von uns. Die Stadt hat uns unglaublich viel gelehrt und für immer geprägt.

Die Freund*innen im Zivilrat wollten, dass ich nach Şehba ziehe, weil die Wege gefährlich waren. Für mich zählte aber die Treuepflicht. Am Anfang des Krieges nahm ich noch den Weg über Kafr Jina, als die Straße an die Besatzer fiel, wich ich auf Jabal Ahlam aus. Oft entkamen meine Kinder und ich nur knapp dem Tod, als wir im Auto unterwegs fahren. Die Bomben der türkischen Armee landeten links und rechts von uns. Aber so etwas wie einen Gewissenskonflikt hatte ich nicht. Es ging schließlich um Efrîn.“

Cihans Ehemann Cemal nahm zu der Zeit am Widerstand gegen die Invasion teil. Sie selbst blieb bis zuletzt, erst als die Türkei und ihre dschihadistischen Proxys sich dem Stadtzentrum von Efrîn näherten, es war Mitte März, ließ sich Cihan mit ihren Kindern nach Şehba evakuieren. „Als Rat von Şehba nahmen wir direkt kommunale Arbeiten für die Vertriebenen aus Efrîn auf. Doch das Regime duldete uns Al-Akrad-Familien nicht. Deshalb waren wir gezwungen, nach Kobanê auszuweichen. Einst war die Befreiung von Cerablus, Azaz und al-Bab mein Traum, nun kam der Schmerz hinzu, den die Invasion von Efrîn verursachte. Dieser Schmerz war noch viel größer. Meinen Kindern geht es ähnlich. Noch immer fragen sie mich, was aus Efrîn wird.“

Frauen werden sich stets der Besatzung widersetzen

Am 6. September 2018 wurde die demokratische Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens ausgerufen. Cihan Xidro gehört zu den Mitbegründer*innen und wurde zur Vorsitzenden des Frauenkomitees gewählt. Mit der gleichen Energie und Moral, die mir schon auffiel, als ich sie das erste Mal sah, engagiert sie sich auch heute für ihre Arbeit. Sie ist überall unterwegs, auf der Suche nach Frauen, mit denen sie spricht, ihnen zuhört und deren Probleme sie zu lösen versucht.

Seit dem 9. Oktober 2019, dem Tag, als die Angriffe auf Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) begannen, ist Cihan Xidro im Einsatz für die Frauen, die aus diesen Städten vertrieben wurden. „Unsere Aufgabe als Frauenrat besteht darin, die Probleme von Frauen und der restlichen Gesellschaft zu lösen. Das ist unsere Maxime. Der türkische Staat versucht hingegen, gemeinsam mit seinen Milizen unsere Regionen vollständig zu besetzen und eine neue Sklaverei zu etablieren. Das werden wir nicht hinnehmen. Mit all unserer Kraft werden wir Frauen Widerstand leisten. Bis zuletzt.“