Aus Gaza nach Syrien

Muna Yusufs Eltern stammen aus Gaza, sie selbst kam in Nordsyrien zur Welt und wurde vom türkischen Staat aus ihrem Geburtsort vertrieben. Heute engagiert sich die Palästinenserin im Syrischen Frauenrat, um Frauen aus dem Nahen Osten zu organisieren.

Geschichte einer Palästinenserin in Rojava

Die Geschichte des palästinensischen und des kurdischen Volkes ist von Besatzung, Unterdrückung und Verfolgung geprägt. Beide Völker wurden von ihrem Land vertrieben und ihrer Rechte beraubt. Sie haben jedoch den Geist des Widerstands am Leben erhalten und ihren Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit fortgesetzt. Eine von ihnen ist Muna Yusuf, eine Palästinenserin, die in Serêkaniyê in Nordsyrien geboren und aufgewachsen ist und aus der großen Familie Semur in Gaza stammt. Muna Yusuf berichtete gegenüber ANF von der Geschichte ihrer Eltern und ihrem Leben in Syrien:


„Meine Eltern lebten in Gaza in einem Lager namens Shati. Sie wurden 1948, als Kinderheirat noch üblich war, nach altem Brauch und Tradition verheiratet. Mein Vater studierte an der Universität Kairo Medizin und lebte daher mit meiner Mutter in Ägypten. Als er gerade sein viertes Studienjahr abschloss, begann die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser aus ihrem Land im Jahr 1948 und aus dem Gazastreifen im Jahr 1952. Meine Eltern unternahmen große Anstrengungen, um nach Palästina zurückzukehren, aber vergeblich. Während die in Gaza lebenden Palästinenser vertrieben wurden, war eine Rückkehr für sie unmöglich.

Während dieser Ereignisse war die Familie meines Vaters gezwungen, den Gazastreifen zu verlassen, und er hatte wusste nichts über ihren Verbleib. Nach langer Zeit erfuhr er, dass einer seiner Brüder in Saudi-Arabien und einer in Dubai war. Das Schicksal der anderen war zu diesem Zeitpunkt unklar. Mein Vater hatte seine Familie verloren und war allein mit seiner Frau und seinen Kindern. Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten musste er so schnell wie möglich arbeiten und wechselte zum Agraringenieurwesen, ohne die medizinische Fakultät abzuschließen. Da es einer Frau 1948 nicht möglich war, in Gaza zu studieren, hatte meine Mutter keine Ausbildung und wurde von ihrer Familie in jungen Jahren verheiratet. Die Familie meiner Mutter wurde zerstreut und es blieb nur ein Bruder übrig. Sie brachte meinen Bruder und meine Schwester in Ägypten zur Welt.

Auswanderung nach Syrien

Aufgrund der damals guten Beziehungen zwischen Syrien und Ägypten wurde mein Vater 1956 von Ägypten nach Syrien geschickt, um an einem großen Projekt in Syrien zu arbeiten, den sogenannten Staatsgärten. Nach seiner Ankunft in Syrien erfuhr mein Vater, dass seine auf dem Weg aus Gaza ums Leben gekommen und unterwegs begraben worden waren. Mehr als 27 Mitglieder der Familie Semur haben während der Nakba ihr Leben verloren.

Meine Eltern mussten ihre Aufenthaltspapiere bei den syrischen Behörden ständig erneuern lassen. Das war das schwierigste Problem. Mein Bruder und meine Schwester studierten Ingenieurwesen, aber sie konnten keine Arbeit finden, weil sie keine syrischen Staatsangehörigen waren. Sie konnten studieren, aber nicht arbeiten.

Hoffnung auf Rückkehr

Mein Vater und meine Mutter lebten bis zu ihrem letzten Atemzug in der Hoffnung, nach Gaza zurückkehren zu können. Wenn mein Vater abends nach Hause kam, schaltete er als Erstes den Fernseher ein und verfolgte die Nachrichten. Meine Mutter sprach tagsüber immer über Gaza. Sie war sehr interessiert an dem Geschehen dort. Sie war nicht in Gaza, aber ihr Herz war dort. Es waren andere Zeiten damals, die Kommunikationsmittel waren Kassetten. Um etwas über die Lage der Menschen in Gaza zu erfahren, nahmen sie ihre Stimmen auf Kassetten auf und schickten sie dorthin. Ich habe meine Kindheit damit verbracht, die Kassetten ihrer Familien in Gaza zu hören.

Hartes Leben in Serêkaniyê

Meine Familie ließ sich 1971 in Serêkaniyê nieder. Wir sind acht Geschwister. Ich wurde 1973 geboren und bin das sechste Kind. Die beiden Ältesten wurden in Ägypten geboren, die anderen in Syrien. Ich habe mein Abitur gemacht und dann die Universität besucht, um mich auf Biologie zu spezialisieren. 1992 habe ich nach dem Abitur geheiratet. Ich habe mein Biologiestudium zuerst fortgesetzt, musste es jedoch abbrechen, weil ich Mutter geworden bin. Unser Leben war aufgrund unserer finanziellen Situation sehr schwierig. Ich konnte das letzte Studienjahr nicht abschließen und fand auch keine Arbeit, weil ich keinen syrischen Ausweis hatte. Wir hatten kein Haus, die wirtschaftliche Not war groß. Wir hatten kein Dach über dem Kopf. Mit dem gesparten Geld haben wir zunächst ein Stück Land gekauft und zehn Jahre lang in einem einzigen Raum gewohnt. Nach zehn Jahren bauten wir ein weiteres Zimmer an. Wir vergrößerten die Anzahl der Zimmer, als wir wirtschaftliche Möglichkeiten fanden. Unser Haus war fertig, aber dann stand der Krieg vor der Tür.

Vertreibung durch die Türkei

Als 2011 der Bürgerkrieg in Syrien begann, 2013 Kämpfe in Serêkaniyê ausbrachen und die Region 2019 schließlich vom türkischen Staat besetzt wurde, wurde das, was meine Mutter und mein Vater in Gaza durchgemacht hatten, vor meinen Augen und in meiner Seele lebendig. Serêkaniyê wurde besetzt und wurden verstreut. Zwei Wochen lang wusste niemand von irgendjemandem. In dieser Zeit wurde mir klar, was das Land bedeutet: Das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, war besetzt. Wir hatten Serêkaniyê wegen des Krieges viele Male für kurze Zeit verlassen, aber seit 2019 konnten wir nicht mehr zurückkehren. Für mich war Serêkaniyê wertvoller als Gaza, denn ich bin dort geboren und aufgewachsen. Meine Arbeit von fast 50 Jahren war mit einem Schlag zerstört. Unser Haus und unser Land wurden den Besatzern überlassen."

Die Stärke der Revolution von Rojava

Nach Beginn der Rojava-Revolution am 19. Juli 2012 fand Muna Yusuf, Mutter von vier Kindern, den Kampf für freie Frauen und ein freies Land spannend und spürte, dass sich wichtige Entwicklungen vollziehen würden. Sie nahm an Bildungsangeboten in der Kommune teil. Die Betonung der Geschwisterlichkeit und Selbstverwaltung der Völker fesselten sie. Es war der Moment, in dem ihre jahrelang unterdrückte Energie zum Vorschein kam. Sie erzählte:

„Ich bin 2015 Kongra Star beigetreten und lebe seitdem mit der Überzeugung, dass die Organisation von Frauen die Völker befreien wird. Seit diesem Jahr versuche ich als Mitglied des Syrischen Frauenrats, Frauen aus Syrien und dem Nahen Osten zu erreichen, zu organisieren und an ihrer Seite zu kämpfen. Ich war früher eine introvertierte, schüchterne Frau, die Angst hatte und zögerte, ihre Gedanken zu äußern. Mit der Revolution von Rojava habe ich mich selbst und meine Stärke erkannt. Ich fühle mich wie neugeboren. Diese Erfahrung ist meiner Meinung nach für alle Frauen wichtig. Der Freiheitskampf der Völker wird von Tag zu Tag wachsen und diese Idee wird die ganze Welt erfassen."