Durch die Angriffe der türkischen Armee auf die Infrastruktur in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien sind 2890 Dörfer ohne Strom und Wasser. Die Kinder können nicht zur Schule gehen und die Gesundheitsversorgung ist stark beeinträchtigt. Wir haben in Qamişlo mit Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen über die Angriffe gesprochen. Während die Kurd:innen im öffentlichen Diskurs zumeist totgeschwiegen werden, wird über die Kriegsverbrechen des Erdogan-Regimes in den deutschen Medien oft pauschal von Angriffen auf „Kurdenmilizen in Nordsyrien“ berichtet. Tatsächlich handelt es sich jedoch um die versuchte Zerstörung der Selbstverwaltung, mit der Menschen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Zugehörigkeit gemäß des von Abdullah Öcalan entwickelten Modells einer demokratischen Nation ein gleichberechtigtes und freies Zusammenleben organisieren.
„Die türkische Politik ist seit hundert Jahren gleich“
Der Armenier Imad Teteriyan wies darauf hin, dass der türkische Staat die Bevölkerung im Nordosten Syriens angreife, weil er der Guerilla im Nordirak unterlegen sei: „Wenn der türkische Staat Verluste erleidet, greift er die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur an. Diese Angriffe sind unmenschlich und niederträchtig. Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî sind besetzt worden und dort wurden Dschihadisten angesiedelt. Diese Politik will der türkische Staat in der gesamten Region umsetzen. Er bombardiert die Lebensgrundlagen der Menschen, um sie durch Hunger und Armut zu vertreiben. Offensichtlich ist ihm dabei nicht klar, dass der Willen der Bevölkerung durch diese Angriffe gestärkt wird. Die Völker Nordostsyriens haben sich die Hand gereicht und verteidigen ihr Land. Die heutige Politik des türkischen Staates folgt derselben Prämisse wie vor hundert Jahren. Die Völkermordpolitik gegen die Armenier wird heute gegen alle Bevölkerungsgruppen betrieben. Die Angriffe treffen nicht nur das kurdische Volk, es handelt sich um eine Kriegspolitik gegen alle Völker. Der Nordosten Syriens ist eine reiche Region, in der Menschen aus unterschiedlichen Völkern, Konfessionen und Religionen zusammenleben.“
„Der türkische Staat ist der Emir des IS“
Die Araberin Delal Hisen antwortete auf die Frage nach ihrer Einschätzung der Angriffe: „Der türkische Staat ist der Emir des IS.“ Weiter erklärte Delal Hisen: „Aufgrund der Angriffe ist die Versorgung mit Gas, Strom und Wasser unterbrochen. Die Bevölkerung soll damit vertrieben werden. Die Menschen haben sich hier im Sinne des Projekts einer demokratischen Nation von Abdullah Öcalan zusammengeschlossen. Die Angriffe richten sich also nicht nur gegen die Infrastruktur, sondern gegen dieses Gesellschaftsmodell. Der türkische Staat will seine neoosmanischen Träume in die Tat umsetzen und die Einheit der Völker zerstören. Unser Willen wird dadurch gefestigt, unsere Verbundenheit mit freiheitlichen Werten wird durch die Angriffe noch stärker. Wenn wir sagen, dass wir die Rojava-Revolution gemacht haben, dann bedeutet das, dass wir auf großen Schmerz vorbereitet sind. Eine Revolution zu machen und der ganzen Welt ein Paradigma gegen das staatliche System vorzustellen, ist nicht einfach. Je stärker wir werden, desto intensiver werden auch die Angriffe auf uns. Das ist der Bevölkerung bewusst. Die Guerilla kämpft in den Bergen für alle Völker, und wir stehen an der Seite des kurdischen Befreiungskampfes.“
„Wir sind auf den Geschmack der Freiheit gekommen“
Bitris Bashir Basom ist Suryoye und erklärte, der türkische Staat habe den Völkern den Krieg erklärt: „Die Angriffe sind zutiefst unmoralisch. Unsere Infrastruktur wird angegriffen, die Bevölkerung soll mit Hunger eingeschüchtert werden. Nordostsyrien zu verteidigen, ist Aufgabe aller Bevölkerungsgruppen. Unser Land wird angegriffen, was haben wir dem türkischen Staat getan, dass er uns so brutal angreift? Er irrt sich, wenn er glaubt, unseren Willen damit brechen zu können. Die Völker Nordostsyriens haben den Geschmack von Freiheit kennengelernt und werden ihren Weg fortsetzen. Nach so großem Widerstand und so vielen Gefallenen ist ein Einknicken für uns undenkbar. Die Menschen hier haben Hand in Hand gekämpft, um ein friedliches und stabiles Leben aufzubauen. Sein oder Nichtsein ist für uns eine gemeinsame Frage. Wir werden unsere Häuser und unser Land nicht verlassen. Der Feind glaubt, dass er mit Strom, Wasser und Treibstoff unseren Willen brechen kann. Auf dem Weg zur Freiheit sind unsere Kinder gefallen, wir haben unser Leben dafür gegeben. Hunger und Wassermangel sind hart für die Menschen, aber wir werden nicht aufgeben und diese schweren Zeiten mit der Geschwisterlichkeit der Völker überwinden.“