Şamî: „Wenn der IS nicht wieder die Menschheit bedrohen soll“

Der QSD-Pressesprecher Ferhad Şamî berichtet im ANF-Interview über viele neue Einzelheiten im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ in Nordostsyrien und den Zusammenhang mit den Angriffen der Türkei.

Bei der vom türkischen Staat in der Nacht vom 19. auf den 20. November gestarteten Angriffswelle auf die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien sind bisher 16 Zivilpersonen getötet worden, darunter auch ein Zwölfjähriger. Die Angriffe richteten sich gegen die Bevölkerung und die Infrastruktur, getroffen wurden neben Schulen und Kliniken auch Anlagen für die Energieversorgung. Gezielt angegriffen wurden jedoch auch die Sicherheitskräfte in Camp Hol und ein Gefängnis für IS-Mitglieder in Qamişlo. Bei dem Angriff in Camp Hol sind acht Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) ums Leben gekommen. IS-Anhänger:innen, die das nach dem Luftangriff entstandene Chaos zur Flucht nutzen wollten, wurden von Sicherheitskräften gefasst.

Camp Hol: Über 50.000 Personen aus über fünfzig Ländern

Im Auffang- und Internierungslager Hol bei Hesekê sind über 50.000 Personen aus über fünfzig verschiedenen Ländern untergebracht. Die meisten kommen aus Syrien und Irak, andere aus Europa, dem Kaukasus, Nordafrika und dem Mittleren und Fernen Osten. Weil der „Islamische Staat“ im Camp immer aktiver wurde, leiteten die Sicherheitskräfte der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) im März 2021 eine Operation ein, bei der geheime IS-Zellen aufgedeckt und knapp 300 IS-Anhänger:innen festgenommen wurden. Eine weitere Operation begann im August dieses Jahres und erstreckte sich über mehrere Wochen. Die Kommandantur der Sicherheitskräfte teilte dazu mit, dass Camp Hol zur Zentrale verdeckter IS-Aktivitäten geworden ist. Den Angaben zufolge wurden in diesem Jahr 44 Personen im Lager ermordet, darunter 14 Frauen und Minderjährige. Bei den meisten Mordopfern handelt es sich offenbar um Abweichler:innen von der IS-Doktrin. Bei der Operation wurden mehrere Ezidinnen befreit, die 2014 in Şengal vom IS verschleppt und verkauft worden waren. In Nordostsyrien sind ungefähr 12.000 IS-Mitglieder in Gefängnissen interniert.

Der QSD-Pressesprecher Ferhad Şamî hat sich im ANF-Interview zur Situation in Camp Hol und den Gefängnissen für IS-Mitglieder in der Region geäußert.

Wie ist die aktuelle Lage in Camp Hol und den IS-Gefängnissen?

Der IS will die momentane Situation in der Region als Gelegenheit nutzen, um sich nach der Ausschaltung mehrerer Kommandeure in Syrien, Nordostsyrien und Irak zu beweisen. Aktuell sind Wüstengebiete in Syrien unter IS-Kontrolle und es finden Bewegungen in Homs, Deir ez-Zor und anderen Gebieten an der Grenze zu Irak statt. Der IS will jeden Tag neue Orte einnehmen und besetzt Dörfer. In Nord- und Ostsyrien wird vor allem Druck auf die Bevölkerung in Deir ez-Zor ausgeübt, manchmal auch in der Nähe von Raqqa und im Süden von Hesekê.

Die IS-Zellen agieren vor allem abends und nachts und sammeln Geld als Opfergabe, das jedoch für die Reorganisierung verwendet wird. Der IS braucht Geld und Ausrüstung für seine Aktivitäten und das gesammelte Geld ist keine geringe Summe. Natürlich hat er gewisse Staaten hinter sich und es werden auch große Summen aus dem Ausland transferiert, aber im Inland finanziert er sich über diese Methode. Laut der Informationen, die wir bei der Einnahme von al-Bagouz [der letzten IS-Enklave im Frühjahr 2019] gewonnen haben, sind 20.000 IS-Mitglieder aus dem Ausland verschwunden. 46.000 Islamisten ausländischer Herkunft hatten sich dem IS angeschlossen, davon sind 26.000 getötet oder verhaftet worden, der Rest ist verschwunden. Der IS hat vor allem bei den Kämpfen in Mosul und Raqqa elementare Kader abgezogen und in den vom türkischen Staat besetzten Gebieten untergebracht, so etwa Abu Bakr al-Bagdadi und weitere Islamisten. Laut unseren Feststellungen befinden sich allein in den besetzten Gebieten fünfzig IS-Kommandeure. Darüber hinaus gibt es dort Tausende weitere Islamisten. Das haben wir auch der Internationalen Koalition mitgeteilt.

Die Türkei hat gezielt Camp Hol und ein Gefängnis angegriffen. Welche Gefahr geht daraus hervor?

Letztendlich will der IS ein weiteres Mal die türkischen Angriffe für sich nutzen. In dieser Hinsicht gibt es zahlreiche Erkenntnisse aus den Haftzentren für IS-Mitglieder sowie aus Camp Hol. Im Januar hat ein großangelegter Angriff auf das Sina-Gefängnis in Hesekê stattgefunden. Dieser Angriff war nur ein Aspekt der Pläne des IS. In der Region befinden sich weiterhin verdeckte Zellen, gegen die wir jeden Tag vorgehen. Der IS braucht eine Führungsstruktur und seine Kommandeure sind zurzeit inhaftiert. Sie sollen befreit werden, damit der IS sich reorganisieren kann. Camp Hol ist eher ein ideologischer Raum für den IS. Es gibt dort jedoch einen militärischen und einen ideologischen Bereich. Das ist bei unserer letzten humanitären Sicherheitsoperation festgestellt worden. In dem für Schulungen genutzten Bereich wurden keine Waffen gefunden, aber in dem anderen Bereich wurde militärische Ausrüstung sichergestellt. Der IS reorganisiert sich in Camp Hol also auf zwei Ebenen.

In den letzten Monaten sind in dem Bereich für Ausländerinnen Kinder im Alter von zwei Jahren entdeckt worden. Darüber ist bisher nicht öffentlich berichtet worden. Wie kommen diese Kinder dorthin? In dem Sektor für Ausländerinnen sind keine Männer untergebracht. Es sieht so aus, als ob Ehen mit Minderjährigen geschlossen werden. Durch die Verheiratung mit Jungen im Alter von 12 oder 13 Jahren wird die Fortpflanzung gewährleistet. Aus diesem Grund werden Kinder in diesem Alter von den Sicherheitskräften jetzt aus dem Sektor geholt.

In Nordostsyrien sind momentan 65.000 IS-Mitglieder in Camps und Gefängnissen interniert, davon befinden sich 12.000 in Haftzentren. Bei den Gefangenen handelt es sich um Kommandeure aus 60 Ländern. Der IS hat diverse Offensiven für ihre Befreiung unternommen und will die Angriffe des türkischen Staates als Gelegenheit nutzen. Innerhalb von 20 Tagen haben acht islamistische Angriffsversuche stattgefunden. Einer davon richtete sich gegen Camp Hol, die anderen betrafen das Gefängnis in Hesekê sowie die Region um Raqqa und Deir ez-Zor und den Süden von Hesekê. Mit den türkischen Angriffen auf Kobanê sollte dem IS Hoffnung gemacht werden. Mekmen ist von der türkischen Luftwaffe bombardiert worden. Das Dorf liegt 80 Kilometer entfernt von der türkischen Grenze an einer strategisch wichtigen Stelle zwischen Raqqa, Deir ez-Zor und Hesekê. Mit der Befreiung von Mekmen konnten damals auch Deir ez-Zor und Raqqa befreit werden. Der IS hat in Mekmen zahlreiche Anschläge verübt und versucht, dort wieder lebendig zu werden. Und der türkische Staat hat Mekmen gezielt bombardiert. Dabei handelt es sich nicht um einen Zufall, sondern um einen Vergeltungsschlag für den IS. Der IS hat die türkischen Bombardierungen als Gelegenheit genutzt und acht eigene Angriffe durchgeführt. Während wir mit der türkischen Angriffswelle beschäftigt sind, mussten wir gleichzeitig acht IS-Angriffe abwehren.

Werden ausreichende Maßnahmen getroffen?

Es muss beachtet werden, wer in den Gefängnissen und Lagern ist. Allein im Sina-Gefängnis sind IS-Mitglieder aus über 50 Ländern. Die meisten IS-Mitglieder aus Europa sind im Gefängnis. Auch in den Lagern befinden sich Personen aus diversen Herkunftsländern. Viele von ihnen waren Kinder, sind jedoch inzwischen herangewachsen und mit den radikalen Ideen des IS erzogen worden. Sie sind wie eine Zeitbombe in unseren Händen. Vor allem Camp Hol ist inzwischen weniger ein Auffanglager als vielmehr ein Militärlager. Der türkische Staat betrachtet den IS nicht als terroristische Organisation, sondern bezeichnet ihn als bewaffnete Organisation. Was zukünftig in Camp Hol und den Gefängnissen geschieht, ist momentan völlig unklar. Diese Orte stellen eine Gefahr dar. Es werden zwar Gefängnisse neu errichtet und es wird Geld dafür ausgegeben, aber das reicht nicht aus, letztendlich nützt es nichts. Es handelt sich lediglich um eine vorübergehende Maßnahme.

Vor allem müssen in unserer Region Gerichtsverfahren gegen die IS-Mitglieder stattfinden. Wir sagen, dass diese Prozesse hier durchgeführt werden müssen, weil die Gefangenen hier bei uns sind. Darüber hinaus leben hier die Menschen, die unter dem IS gelitten haben, und es sind fünf Millionen Menschen. Außerdem haben wir die Belege für die begangenen Verbrechen. Manche Staaten sprechen sich dafür aus, dass die Prozesse an anderen Orten stattfinden sollten. Das würde jedoch keinen Sinn haben, weil die fünf Millionen Zeuginnen und Zeugen nicht dorthin gebracht werden können. Ebenso ist es kaum machbar, derartig viele Gefangene an einen anderen Ort zu überführen. Im Grunde genommen soll das gesamte Verfahren damit zersplittert werden, es soll nicht um den IS als ganzes gehen. Der IS ist jedoch keine Ansammlung von Einzelfällen. Wir haben nicht gegen Einzelpersonen gekämpft, sondern gegen eine Mentalität. Seit der Zerschlagung des IS-Kalifats 2019 sind ungefähr 3000 IS-Mitglieder in den Irak zurückgeführt worden und etwa 2000 aus anderen Herkunftsländern. Das reicht nicht aus, denn bei uns sind 65.000 IS-Mitglieder. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, werden sie noch 25 weitere Jahre hier bleiben. Es muss eine Lösung gefunden werden. Es muss ein Gerichtshof gegründet werden oder jedes Land muss seine eigenen IS-Mitglieder zurücknehmen.

Die Kontrolle über die Islamisten obliegt ja nicht nur der Autonomieregion, auch die Internationale Koalition trägt Verantwortung. Inwieweit kümmern sich die in der Anti-IS-Koalition vertretenen Staaten um die Angelegenheit? Führen Sie in dieser Sache Gespräche mit der Koalition?

Selbstverständlich finden solche Gespräche statt. Diese 85 Länder befinden sich als internationale Koalition in unserer Region. Sie tun jedoch sehr wenig, um die QSD nachrichtendienstlich oder anderweitig zu unterstützen. Für den Kampf gegen den IS reicht das nicht aus. Sowohl der militärische Kampf als auch die Gesellschaft müssen viel mehr unterstützt werden. Der IS hat große Zerstörung in der Region verursacht, unsere Infrastruktur wurde zerstört, viele Schulen sind Ruinen, Einrichtungen für die Strom- und Wasserversorgung sind defekt, Städte und Dörfer wurden geplündert und zerstört. Für die Wiedererrichtung brauchen wir direkte Unterstützung. Außerdem muss die Region langfristig auch politisch anerkannt werden. Der Kampf gegen den IS findet nicht nur auf militärischer Ebene statt, sondern auch auf politischer und ideologischer. Solange unsere Region keine offizielle Anerkennung findet, wird die IS-Gefahr bestehen bleiben und der türkische Staat wird den IS weiter unterstützen. Darüber haben wir ausführlich mit der Koalition gesprochen.

Die Koalition gesteht ein, dass der Kampf gegen den IS ohne die QSD und die YPJ/YPG keine Aussicht auf Erfolg hat. Nur die Türkei bekennt sich nicht dazu, aber sie finanziert den IS ja ohnehin. Außer den QSD gibt es keine Kraft, die den IS bekämpfen kann. Wenn dieser Kampf zu Ergebnissen führen und der IS nicht erneut die gesamte Menschheit bedrohen soll, müssen die QSD stärker unterstützt werden.

Zu dem Angriff auf das IS-Gefängnis in Hesekê gibt es Ermittlungsergebnisse, die in der kommenden Zeit veröffentlicht werden sollen. Lager und Gefängnisse unterstehen der IS-Kommandantur und werden von den jeweiligen Kommandeuren befehligt. Diese Kommandeure befinden sich früher wie heute in Idlib und Efrîn. Das hat sich bei der Untersuchung des Angriffs in Hesekê bestätigt. Vor anderthalb Monaten sind drei IS-Mitglieder gefasst worden, die eine Zelle für einen weiteren Angriff auf das Gefängnis gründen wollten. Die gefassten Islamisten sind in Lagern im türkisch besetzten Serêkaniyê ausgebildet worden. Auch ihre Aussagen werden in naher Zukunft veröffentlicht werden.