Im Windschatten des Ukraine-Krieges werden die Angriffe der Türkei gegen das Autonomiegebiet Nord- und Ostsyriens immer aggressiver. Täglich schlagen Bomben und Granaten in Siedlungen entlang der Grenze zur türkischen Besatzungszone ein und Drohnen des NATO-Staates führen gezielte Mordanschläge durch. Währenddessen stellt das Regime in Damaskus Teile der Region unter ein schweres Embargo. Besonders betroffen davon sind die kurdischen Stadtteile Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo. Sie sind de facto vom Regime eingekesselt. Dadurch ist auch der an Aleppo angrenzende Kanton Şehba von der Blockade betroffen. Bedran Çiya Kurd, stellvertretender Ko-Vorsitzender des Exekutivrats von Nord- und Ostsyrien, warnt nun vor einer Allianz zwischen Damaskus und Ankara. „Die Tatsache, dass Damaskus ein solches Bündnis schließt, bedeutet, dass sich das Regime an den Rechtsverletzungen des türkischen Staats beteiligt. Dies birgt große Gefahren für die Bevölkerung Syriens“, äußerte Kurd im ANF-Interview.
Wie ist die aktuelle Lage um Şêxmeqsûd, Eşrefiyê und Şehba? Wie steht es um das Embargo?
Die Belagerung stellt eine große Krise dar. Sie ist auch in Qamişlo und Hesekê zu spüren. Als autonome Selbstverwaltung sind wir gegen die Eskalation dieser Krise und das Anwachsen der Spannungen. Das Regime erhöht mit seiner Politik jedoch diese Unruhe und die Spannungen. Obwohl in den letzten Tagen große Anstrengungen unternommen wurden, um sowohl die Situation in Şêxmeqsûd und Eşrefiyê als auch die Situation in Qamişlo-Hesêkê zu lösen, hat sich die Haltung des Regimes bisher leider nicht geändert. Russland wollte vermitteln, um sicherzustellen, dass dieses Problem gelöst wird und nicht wächst. Nach unseren neuesten Informationen hat das Regime seine Kräfte in der 4. Division (die Kontrollpunkte zwischen Regime- und Autonomiegebiet werden von der 4. Division betrieben, ANF) verstärkt. Es sollte sich nicht selbst betrügen und glauben, dass das geschieht, was es sagt. Das wird uns dazu bringen, dass auch wir einige Schritte unternehmen. Auch wenn wir nicht wollen, dass das Problem noch weiterwächst, werden wir über eine andere Haltung nachdenken und sprechen. Für alles, was geschehen wird, ist das Regime in Syrien verantwortlich.
Was will das Regime?
Hunderttausende Menschen in Şêxmeqsûd und Eşrefiyê sowie der Şehba-Region sind mit einem Embargo und einer Umzingelung durch das syrische Regime konfrontiert. Diese Haltung und Politik zielen darauf ab, den Willen unseres Volkes dort zu brechen und die Menschen zur Aufgabe zu zwingen. So will das Regime seine Politik und seine Ziele durchsetzen. Das Regime, das diese Politik seit vielen Jahren verfolgt, hat nichts zu einer Lösung der Probleme in Syrien beigetragen. Im Gegenteil, es hat die Probleme vertieft und Fluchtursachen geschaffen. Ein Beispiel dafür sind die Geschehnisse in Ghouta und Homs. Jetzt will das Regime die gleiche Politik in Şêxmeqsûd, Eşrefiyê und Şehba anwenden. Diese Politik hat zu massivem demografischem Wandel und Flucht geführt.
Es ist dem Regime aber nicht möglich, den Willen des Volkes zu brechen. Insbesondere die Menschen in Şêxmeqsûd und Eşrefiyê führen seit Jahren einen Verteidigungskampf, vor allem gegen dschihadistische Gruppen. Es sind Hunderte, die in diesen Vierteln im Kampf gefallen sind. Sie haben ihre Existenz verteidigt und tun dies auch weiterhin. Deshalb kann eine solche Politik niemals den Willen unseres Volkes brechen. Das Regime wird angesichts des Widerstands unseres Volkes niemals gewinnen. Es müsste seine Politik überdenken und sich mit allen Komponenten der Bevölkerung versöhnen. Doch stattdessen behält die damaszener Regierung ihre alte hierarchische und monistische Denkweise bei. Die Autonomie und der Wille des Volkes werden nicht anerkannt. Stattdessen sollen alle werden wie das Regime. Es will seine Herrschaft in allen Regionen wiederherstellen. Diese fehlgeleitete Politik wird zu immer größeren Problemen in Syrien führen. Die Besonderheit jeder Region sollte berücksichtigt werden. Andernfalls verliert das Regime auch das, was ihm noch übriggeblieben ist.
Diese Belagerungssituation ist inakzeptabel. Unser Volk wird sich niemals der Politik des Regimes ergeben. Diese Gebiete sind seit vielen Jahren das Zentrum unseres politisch-demokratischen Kampfes in Syrien und Rojava. Der Kampf dort ist zu einem politisch-demokratischen Kampf für ganz Rojava geworden.
Das Regime meint, weil es in der letzten Zeit wieder Beziehungen zu einigen arabischen Staaten aufgebaut hat, zum Status Quo Ante zurückkehren zu können. Wenn Damaskus das wirklich glaubt, macht es sich selbst etwas vor. Es wird dem Regime nicht möglich sein, in seine frühere Position zurückzugelangen, überall zu herrschen und dieses Land mit seiner alten Mentalität zu dominieren. Weder die Bevölkerung Syriens noch die Länder der Region und der Welt werden dies akzeptieren.
Das Regime glaubt, die Probleme in Daraa und Suweida gelöst zu haben und nun seine Herrschaft in Şêxmeqsûd, Eşrefiyê und Şehba neu installieren zu können. Aber das Regime hat weder die Probleme in Südsyrien gelöst, noch kann es die Probleme lösen, die in Aleppo und Şehba bestehen. Denn mit einer solchen Politik ist es nicht möglich, Konflikte zu lösen.
Warum wird diese schon lange bestehende Belagerung gerade jetzt intensiviert? Was steckt dahinter?
Das Regime in Damaskus verfügt über reiche Erfahrungen darin, wie man der Mehrheit des syrischen Volkes durch eine Politik der Belagerung die Kapitulation aufzwingen kann. In diesem Zusammenhang gibt es dieses seit Jahren andauernde Embargo und die Belagerung von Şehba und Aleppo. Man kann zwei Ursachen in den Vordergrund stellen, warum Belagerung und Embargo gerade jetzt ausgeweitet werden.
Zum einen meint das syrische Regime, dass der gesamte Globus mit dem Krieg zwischen der Ukraine und Russland beschäftigt ist und die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft dort liegt. In einer solchen Situation sieht es sich in der Lage, auf diese Viertel Druck aufzubauen und schließlich in sie einzudringen. Es geht darum, die Besonderheit dieser Orte vollständig zu beseitigen. Diese Phase wird als Chance begriffen, die eigene Herrschaft durchzusetzen und den Willen unseres Volkes zu brechen.
Zweitens scheint es in letzter Zeit viele Diskussionen zwischen dem türkischen Geheimdienst und die syrische Führung gegeben zu haben. Solche Verhandlungen sind natürlich nicht neu. Beide Regime versuchen seit einiger Zeit, sich einander anzunähern. Der Punkt, an dem sich Damaskus und Ankara treffen, ist ihre Haltung gegen den Willen der Menschen in Nord- und Ostsyrien und das Projekt der Selbstverwaltung. Der Hauptwunsch der Türkei ist derzeit, die Existenz unseres Volkes und die demokratisch-autonome Verwaltung zu vernichten. In diesem Sinne finden ständig Gespräche statt. Das bereitet große Sorgen.
Das Regime in Ankara begeht in Syrien seit elf Jahren alle Arten von Verbrechen, von Raub über Massaker, Besatzung usw. Was in Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî geschieht, ist offenkundig. Wenn das Regime in Damaskus eine Allianz mit Ankara eingeht, dann bedeutet es entweder, dass es diese Verbrechen nicht gesehen hat, oder dass es sie ignoriert. Somit beteiligt sich das Regime an dem, was die Türkei und die von ihr unterstützten Milizen in Syrien anrichten. Ankara und Damaskus vereinen sich damit im Sinne ihrer Machtinteressen gegen die Menschen hier. Dies stellt eine große Gefahr für die Völker in Syrien und insbesondere für diejenigen, die in unserer Region leben, dar. Viele Menschen sind deshalb beunruhigt und werden dies niemals akzeptieren.
Haben Sie Informationen über Treffen zwischen dem MIT und dem syrischen Geheimdienst?
Es stehen seit geraumer Zeit Gespräche zwischen dem MIT und dem syrischen Geheimdienst auf der Tagesordnung. Informationen darüber tauchen immer wieder auf. Wir beobachten diese Situation. Soweit wir wissen, finden diese Verhandlungen tatsächlich statt. Es gibt eine gewisse Zusammenarbeit. Tatsächlich ist der Kontakt zum türkischen Geheimdienst nie abgerissen. Es gab immer Beziehungen, aber in der jüngsten Zeit wurden diese Geheimdienstkontakte auf die Ebene politischer und diplomatischer Beziehungen gebracht. Soweit bekannt, vermittelt dabei Russland. Dies gilt sowohl für die Verbesserung der Beziehungen zu den arabischen Staaten als auch für die Umwandlung der Geheimdienstkontakte mit der Türkei in politische Beziehungen mit dem Ziel, die politische und diplomatische Einkreisung des Regimes in Damaskus zu durchbrechen.
Die AKP/MHP-Regierung hat erklärt, dass unter der Bedingung der Zerschlagung der Selbstverwaltung von Rojava Treffen mit dem syrischen Regime beginnen können. Was denken Sie zu diesem Punkt?
Die Pläne der AKP/MHP-Regierung für Rojava sind klar. Ankara arbeitet auf Vernichtung der Selbstverwaltung und unserer Region hin. Bisher ist dies der zentrale Plan. Und um Unterstützung dafür zu bekommen, ist das türkische Regime zu jedem Bündnis bereit. Sei es mit Damaskus, den NATO-Staaten oder Russland. Es soll eine Kulisse für neue Angriffe geschaffen werden. Zerstörung und Völkermord sind für das AKP/MHP-Regime, das den Wahlkampf begonnen hat, unerlässlich. Dabei wird alles getan werden, um in diesem Jahr die Kurdenfeindschaft voranzutreiben. Beide Parteien arbeiten rund um die Uhr daran, antikurdische Allianzen zu bilden.
Wie alle verfolgen können, haben die Angriffe auf die Autonomiegebiete in Nord- und Ostsyrien nie aufgehört. Ob Drohnen oder Mörser, es gibt jeden Tag Angriffe und Menschen aus der Zivilbevölkerung werden ermordet. Das Konzept der Zerstörung und Besatzung unserer Regionen befand sich immer auf dem Schreibtisch der Türkei und an seiner Umsetzung wird laufend gearbeitet.
Gab es vor oder nach der Belagerung von Şêxmeqsûd, Eşrefiyê und Şehba Gespräche zwischen Rojava und Damaskus?
Wie alle beobachten konnten, hat es in der letzten Zeit kein Treffen zwischen der Selbstverwaltung und Damaskus gegeben. Es entwickelte sich kein Dialog, weil das Regime nicht bereit war, ihn voranzubringen. Weil das Regime das Ende aller Institutionen der Selbstverwaltung verlangte und die Besonderheit der Region in keiner Weise akzeptierte, konnte kein Dialog entstehen.
Unsere Sicherheitskräfte und Russland versuchten die Situation in Qamişlo und Hesekê, die sich im Zusammenhang mit den Geschehnissen in Aleppo und Şehba entwickelte, zu lösen. Aber das Regime hat bis jetzt keinen einzigen Schritt unternommen. Deshalb müssen wir nun, obwohl wir es nicht wollen, einige zwingend notwendige Maßnahmen ergreifen.
Russland muss seine Mission und Rolle in dieser Hinsicht ernsthaft erfüllen. Es sollte nicht zulassen, dass sich dieses Problem auf diese Weise entwickelt. Im Gegenteil, Russland sollte den Weg ebnen, um alle bestehenden Probleme in Syrien durch Dialog zu lösen.
Wie ist die Position der USA und Russlands zur Belagerung und den Angriffen in Nord- und Ostsyrien?
Es gibt ein allgemeines Embargo und eine Umzingelung von Nord- und Ostsyrien. Man will so die Region ökonomisch einschränken und die Probleme hier weiter vertiefen. Es gibt Probleme auf der Seite des Regimes. Russland hat sich auch gegen die Öffnung des Grenzübergangs in Til Koçer (Al-Yarubiyah) gestellt. Ebenso gibt es auch keine ernsthaften praktischen Bemühungen der internationalen Koalition und der USA in Bezug auf das Embargo und die Umzingelung. Immer wieder wurde gesagt, man wolle Nord- und Ostsyrien aus dem Caesar Act (2019 vom früheren US-Präsidenten Donald Trump eingeführtes US-Sanktionsgesetz für Syrien, ANF) ausnehmen. Aber es gibt keine praktischen Schritte.
Es gibt in diesem Zusammenhang nichts, was wir bewerten können. Denn vor Ort ist alles dasselbe. Die Türen sind verschlossen und die Belagerung dauert in jedem Sinne an. Wir verfolgen die Äußerungen der USA. Es heißt, man wolle sanktionspolitische Ausnahmen für unsere Region bewilligen, aber bis jetzt ist keine offizielle Entscheidung getroffen worden.
Was sind die Gefahren für die Region?
Die wirtschaftliche Belagerung Nord- und Ostsyriens und die Angriffe des türkischen Staates sollen die Region ins Chaos stürzen und die Menschen gegen die Demokratischen Kräfte Syriens (kurz QSD, ANF) und die Selbstverwaltung aufbringen. Auf diese Weise will man die Selbstverwaltung dazu zwingen, dass sie in vielen Fragen Schritte zurück macht. Wenn sich diese Entwicklung so fortsetzt und es zu einer Krisensituation kommt, wird vor allem der IS davon profitieren. Jeder sieht, wie sich der IS neu organisiert und wieder auflebt. Er betrachtet die Situation in der Region als Chance. Die internationale Koalition und Russland sind dafür in erster Linie verantwortlich. Die Politik gegen die QSD und Selbstverwaltung stellt ein großes Problem dar. Zuerst wird der IS neu belebt. Deshalb muss jeder heute diese Situation entsprechend bewerten und behandeln.