Nord- und Ostsyriens Roadmap für Stabilität
Es liegt im Interesse der internationalen Gemeinschaft, die Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien zu unterstützen. Die kurdische Politikerin Ilham Ehmed spricht fünf Empfehlungen aus.
Es liegt im Interesse der internationalen Gemeinschaft, die Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien zu unterstützen. Die kurdische Politikerin Ilham Ehmed spricht fünf Empfehlungen aus.
Die militärische Niederlage des IS-Kalifats, die vor fast fünf Jahren durch die gemeinsamen Anstrengungen der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD, en.: SDF) und der Internationalen Koalition erreicht wurde, hatte bedeutende Folgen für unsere Region und die Welt. Der IS hält kein Territorium mehr, und seine Fähigkeit, den Nahen Osten, Europa und die Vereinigten Staaten zu bedrohen, ist stark geschwächt.
Hier in Nord- und Ostsyrien erholt sich unsere Gesellschaft von den Folgen der Unterdrückung durch den IS. Wir haben den ethnischen und religiösen Pluralismus als Grundlage für die Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens angenommen und die Werte der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Frauenrechte gestärkt. Das stellt die Hassideologie des IS in Frage und macht uns politisch und kulturell reicher. In der Verwaltung hat sich die Dezentralisierung als ein wirksames System erwiesen, das den Bedürfnissen eines Landes gerecht werden kann, welches in Bezug auf Identität, Kultur und Politik so vielfältig ist wie Syrien. Um die Defizite auszugleichen, die durch die Fokussierung auf existenzielle militärische Bedrohungen entstanden sind, arbeiten wir auch daran, den Schwerpunkt unserer Bemühungen auf Verbesserungen in Verwaltung und Politik auf der Grundlage dieser Werte zu verlagern.
12.000 Gefallene im Kampf gegen den IS
Dennoch sind wir mit vielen Opfern und materiellen Verlusten allein gelassen worden. 12.000 Angehörige unserer Streitkräfte haben im Kampf gegen den IS ihr Leben verloren. Unsere Wirtschaft und unsere Infrastruktur wurden zerstört. Die Gesellschaften, die unter der Herrschaft des IS gelitten haben, sind in vielerlei Hinsicht schwer geschädigt worden. Und obwohl unser Volk größere Opfer im Kampf gegen IS aufgebracht hat als jedes Land dieser Welt, sind wir immer noch für Tausende von IS-Gefangenen aus anderen Ländern und anderen Regionen Syriens verantwortlich.
Die Internationale Koalition hat keine nachhaltige Strategie
Angesichts dieser Situation kann die Position der Koalitionstruppen im Norden und Osten Syriens fast als stagnierend bezeichnet werden. Sie führen routinemäßig Operationen gegen IS-Zellen und IS-Aktivitäten durch, haben aber weder eine Strategie noch praktische Mechanismen zur Beseitigung der Bedingungen entwickelt, die zur Entstehung des IS geführt und die Verbreitung seiner Ideologie ermöglicht haben. Sie scheinen auch keine nachhaltigen Pläne für eine Zukunft nach dem IS zu haben. Während wir über politische und soziale Lösungen nachdenken, um das Jahrhundert des Krieges und der staatlichen Unterdrückung zu beenden, das unsere Region erdrosselt hat, konzentrieren sie sich auf begrenzte militärische Ziele, ohne ein Ende in Sicht.
Auswirkungen des Krieges zwischen Israel und der Hamas
Die Auswirkungen des Krieges zwischen Israel und der Hamas auf unsere Region haben dieses Problem noch verschärft. Der Krieg hat die Vereinigten Staaten und die Koalition weiter von den politischen und sozialen Wurzeln der Sicherheitsprobleme in Nord- und Ostsyrien abgelenkt und eine militärische Konfrontation in unserer Region wahrscheinlicher gemacht. Dies hat der Türkei und anderen Mächten, die in Nord- und Ostsyrien lauern, die Möglichkeit gegeben, die Errungenschaften in Bezug auf Sicherheit, Stabilität und Staatsführung anzugreifen, die unter großen Opfern erzielt worden sind.
Angriffswellen der Türkei auf die zivile Infrastruktur
In den letzten Monaten hat die Türkei wiederholt die zivile Infrastruktur in Nord- und Ostsyrien angegriffen. Die Angriffe richteten sich nicht nur gegen kritische öffentliche Infrastrukturen, sondern auch gegen private Unternehmen. Am ersten Weihnachtsfeiertag griff die Türkei einen Verlag an, der mehrsprachige Schulbücher druckt, die es unseren Kindern ermöglichen, in ihrer Muttersprache zu Bildung zu erhalten, eine Olivenverarbeitungsanlage, die von einer Familie betrieben wird, die durch die türkische Invasion und Besetzung aus Efrîn vertrieben wurde, sowie einen Hochzeitssaal, der einer der wenigen verbliebenen christlichen Familien in der Stadt Amûdê gehört.
Bei diesen Angriffen wurden Zivilpersonen getötet und verletzt, die Wirtschaftskrise in unserer Region hat sich verschärft und es ist der Selbstverwaltung nicht mehr möglich, grundlegende Dienstleistungen wie Strom und sauberes Wasser für unsere Bevölkerung bereitzustellen. All dies wird sich auch negativ auf unsere Fähigkeit auswirken, den IS in Schach zu halten, die Region zu stabilisieren und den Krieg zu beenden.
Das internationale Schweigen und die Folgen
Trotz alledem gibt es keine starke internationale Position gegen die Aggression der Türkei. Die Vereinigten Staaten und die Koalition, die anderen regionalen und internationalen Mächte, die sich mit der syrischen Krise befassen, und sogar internationale Menschenrechtsorganisationen haben alle tatenlos geschwiegen und tun dies weiterhin.
Dies hat für unsere internationalen Partner mehrere Probleme geschaffen. Erstens sind wir eine Demokratie, die dem Willen des Volkes gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Es könnte uns eines Tages zu Recht fragen, warum wir mit Akteuren zusammenarbeiten und ihnen Zugeständnisse machen, die uns im Gegenzug nicht dabei unterstützen, in Frieden und in Sicherheit zu leben. Zweitens, wenn unsere Feinde unser Projekt zerstören, wird nicht nur unser Volk verlieren. Frühere türkische Angriffe haben zu Massenvertreibungen geführt, dem IS Raum zum Gedeihen gegeben und die Krise in Syrien zum Vorteil von Diktatoren und Terroristen verlängert. Da sich der Nahe Osten bereits am Rande eines größeren Krieges befindet, ist diese Gefahr in Nordsyrien noch größer als zuvor.
Unsere politische Strategie zur Beendigung des Krieges
Es ist klar, dass eine politische Strategie zur Beendigung des Krieges in Syrien, die auch als Blaupause für die Beendigung anderer Konflikte in der Region dienen kann, nicht nur in unserem Interesse liegt, sondern auch im Interesse der internationalen Gemeinschaft. Im Folgenden werde ich unsere Strategie und ihre möglichen positiven Auswirkungen auf die Region darstellen.
Wir sehen unsere Zukunft als Teil eines vereinten, demokratischen, multiethnischen Syriens, das durch einen Prozess erreicht wird, in welchem die syrische Bevölkerung mit all ihren Komponenten einbezogen wird. Wenn ein System, das alle Einwohnerinnen und Einwohner Syriens ohne Ausgrenzung repräsentiert, von allen akzeptiert wird, wird in Syrien Stabilität herrschen und die Probleme in unserem Land werden sich verringern.
Dezentralisierung und Pluralismus schwächen Syrien nicht
Die Regierung in Damaskus verhält sich unseren Ideen gegenüber rückwärtsgewandt und fordert stattdessen eine Rückkehr zu den Bedingungen, die 2011 den Krieg ausgelöst haben. Sie verweigert uns unsere grundlegenden bürgerlichen und politischen Rechte und wirft uns vor, das Land spalten zu wollen. Lassen Sie es mich klar sagen: Wir sind keine Separatisten. Wir lehnen die Vorstellung ab, dass Dezentralisierung und Pluralismus Syrien schwächen oder weniger stabil machen würden. Im Gegenteil, Syrien würde aus diesem Prozess gestärkt hervorgehen. Föderale Systeme gibt es in starken, sicheren und einflussreichen Ländern auf der ganzen Welt. Das Fortbestehen unserer Regierung beweist, dass Pluralismus eine Stärke ist. Trotz der Bemühungen, Zwietracht und ethnischen Hass zu schüren, sind viele Kurden, Araber, Assyrer und Aramäer in Nord- und Ostsyrien heute davon überzeugt, dass das politische System der Selbstverwaltung die beste Option für sie ist und dass sie innerhalb dieses Systems zusammenarbeiten können, um offene Fragen zu lösen.
Die Selbstverwaltung muss anerkannt werden
Unsere Strategie zur Beendigung des Krieges besteht darin, mit den verschiedenen Konfliktparteien in Syrien zu kommunizieren und die Bemühungen interner und externer Akteure um eine demokratische Zukunft zu vereinen. Wir sind der Auffassung, dass die von den Vereinten Nationen im Einklang mit der UN-Resolution 2254 getragenen politischen Prozesse sowie andere politische Prozesse Nord- und Ostsyrien nicht ausschließen sollten. Wir sind eine Realität vor Ort. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien sollte politisch anerkannt werden, damit wir aus der besten Position heraus verhandeln können.
Wir haben kürzlich zwei Änderungen vorgenommen, um dies zu erleichtern. Der Demokratische Syrienrat (MSD, en.: SDC) hat seine Arbeit über Nord- und Ostsyrien hinaus ausgeweitet. Er öffnet nun seine Türen für alle demokratischen Verwaltungen und Bewegungen in Syrien. Wir hoffen, dass alle, die unsere Werte teilen und sich für Demokratie, Koexistenz, Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie ein Ende des Krieges einsetzen, uns die Hand reichen werden.
Neuer Gesellschaftsvertrag verabschiedet
Außerdem haben wir im Dezember 2023 einen neuen Gesellschaftsvertrag verabschiedet. Wir sehen dies sowohl als einen notwendigen Schritt, um den Bedürfnissen der Menschen in unserer Region gerecht zu werden, als auch als einen Modellvorschlag für ein zukünftiges demokratisches Syrien, an dem wir teilhaben werden. Unser Gesellschaftsvertrag schützt die Errungenschaften, die wir in Bezug auf Koexistenz, Religionsfreiheit und die Rechte der Frauen erreicht haben. Er geht auch auf einige unserer Defizite ein. Wir planen, so bald wie möglich Wahlen abzuhalten, die mit der Wahl in den Kommunen beginnen sollen. Der Gesellschaftsvertrag gibt jeder Ortschaft, jeder Stadt und jedem Kanton die Möglichkeit, übergeordnete Entscheidungen per Referendum abzulehnen, wenn die Bevölkerung es wünscht. Das wird unseren inneren Zusammenhalt stärken und uns helfen, die am besten funktionierende Regierungsform in Syrien zu bleiben.
Die Ursachen von Extremismus müssen bekämpft werden
Um die aktuellen Sicherheitsherausforderungen im Zusammenhang mit dem IS zu bewältigen, werden wir uns politisch und gesellschaftlich engagieren, um die Ursachen des Extremismus und die dahinter stehende Mentalität zu bekämpfen. Wir werden uns bemühen, unsere Wirtschaft in den vom IS befreiten Regionen zu verbessern, damit die Gruppierung die Armut und die Auswirkungen des Krieges nicht ausnutzen kann. Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, den IS vor Gericht zu stellen und für die Verbrechen, die diese Gruppe an unserem Volk verübt hat, zur Rechenschaft zu ziehen. Die politische Ausgrenzung, die gegen unsere Selbstverwaltung praktiziert wird und die ich zuvor beschrieben habe, ist ebenfalls einer der Faktoren, die unsere Fähigkeit beeinträchtigen, den IS langfristig zu besiegen. Da wir zum Beispiel keine internationale Anerkennung haben, werden unsere Bemühungen, IS-Mitglieder vor Gericht zu stellen, von der internationalen Gemeinschaft nicht unterstützt. Aufgrund unserer wirtschaftlichen Ausgrenzung sind wir nicht in der Lage, die Ressourcen zu erhalten, die wir für den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der durch den Krieg zerstörten Regionen benötigen.
Wir sind keine Bedrohung für die Türkei
Ein weiteres großes Sicherheitsproblem, mit dem wir konfrontiert sind, sind jene Kräfte, die die Existenz des kurdischen Volkes oder das Modell der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien nicht akzeptieren. Diese Kräfte versuchen, die gegebenen Realitäten mit militärischen Mitteln zu verändern, was den Konflikt vertieft, die humanitäre Katastrophe in unserem Land verschlimmert und die internationale Gemeinschaft bedroht.
Eine dieser Mächte ist die Türkei. Die Türkei beschuldigt uns weiterhin fälschlicherweise des „Terrorismus“, um Angriffe auf unser Volk zu rechtfertigen. Ich wiederhole: Wir sind keine Bedrohung für die Türkei. Wir lassen nicht zu, dass unser Territorium von irgendjemandem benutzt wird, um unsere Nachbarn anzugreifen. Meine Kolleginnen und Kollegen haben sich wiederholt für eine friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Türkei und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingesetzt. Im Jahr 2022 schrieb der QSD-Generalkommandant Mazlum Abdi in der Washington Post, dass „wir bereit sind, eine hilfreiche Rolle bei der Wiederaufnahme dieser Gespräche zu spielen und den Frieden zu erreichen, den wir anstreben“.
Am Modell der Selbstverwaltung orientieren
Auch heute stehen wir zu dem Aufruf zum Dialog, der in diesem Artikel geäußert wurde. Wir glauben, dass die Türkei ihre internen Probleme mit friedlichen und demokratischen Mitteln lösen muss. Das Vorgehen gegen unschuldige Männer, Frauen und Kinder in Nord- und Ostsyrien wird die tief verwurzelten Konflikte nicht lösen, die durch die jahrzehntelange Leugnung der Existenz des kurdischen Volkes und die Zerstörung der Demokratie entstanden sind.
Anstatt zu versuchen, unser Modell der Selbstverwaltung zu zerstören, sollte die Türkei vielleicht lieber davon lernen. Unser Modell erlaubt es allen Menschen, ihre eigene Sprache zu sprechen, ihren eigenen Glauben zu praktizieren und stolz auf ihre eigene Identität zu sein. Es dezentralisiert die Macht auf Gemeinden und Kantone. Es ist immer offen für Veränderungen und Verbesserungen, wie unser neuer Gesellschaftsvertrag und der Prozess, aus dem er hervorgegangen ist, zeigen. Wenn die Türkei solche Modelle übernehmen würde, gäbe es ihre kurdische Frage nicht. Wir hoffen wirklich, dass eines Tages ein demokratisches, multiethnisches Syrien und eine demokratische, multiethnische Türkei gute Nachbarn und sogar gute Freunde sein können.
Wir können einen echten Wandel herbeiführen
Wir wissen, dass unsere größte Stärke in jedem diplomatischen Prozess oder Dialog die Alternative ist, die wir zu ultranationalistischen Autokraten und religiösen Fundamentalisten bieten. Obwohl wir mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, sind unsere Regionen nach wie vor der stabilste und am besten funktionierende Teil Syriens. Trotz der Besetzung unserer Städte war die Türkei 2019 nicht in der Lage, uns zu zerstören, weil unsere Menschen zusammenhielten und ihr Projekt verteidigten. Wenn unser politisches System schwach und unser Volk gespalten ist, können wir nicht vorankommen. Wenn es stark ist und unsere Menschen geeint sind, können wir einen echten Wandel herbeiführen.
Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, unsere politischen Institutionen aufzubauen, die Selbstverwaltung durch Schritte wie den Gesellschaftsvertrag voranzubringen, die Ursachen des IS zu bekämpfen, um die Gruppe und ihre Ideologie dauerhaft zu besiegen, und eine politische Lösung zu finden, um die Krise in Syrien endgültig zu beenden.
Empfehlungen an die internationale Gemeinschaft
Es liegt im Interesse der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der Länder, die bereits mit uns in Nord- und Ostsyrien zusammenarbeiten, uns dabei zu unterstützen, dies zu ermöglichen. Zu diesem Zweck möchten wir an sie die folgenden fünf Empfehlungen aussprechen:
Lassen Sie uns die Kampagne gegen den IS fortsetzen und mit neuen Mechanismen stärken, die die Ideologie der Gruppe und die Ursachen ihrer Ausbreitung bekämpfen.
Setzen Sie sich mit dem neuen Gesellschaftsvertrag von Nord- und Ostsyrien auseinander, leisten Sie Hilfe bei der praktischen Umsetzung des Vertrags vor Ort und unterstützen Sie uns dabei, Wahlen in einem sicheren und geschützten Umfeld abzuhalten.
Entwickeln und fördern Sie Investitionen für Nord- und Ostsyrien, die auf eine Bewältigung der Wirtschaftskrise hinwirken, um die Stabilität in der Region zu stärken.
Unterstützen Sie den Dialog zwischen verschiedenen Parteien und Akteuren in Syrien, um eine von Syrerinnen und Syrern geführte Lösung zu finden, die keine Region oder Verwaltung ausschließt.
Unterstützen Sie eine inklusive Syrien-Konferenz zur Ausarbeitung eines neuen Gesellschaftsvertrags, der zu einer Übergangsphase in Syrien führt.
Der Beitrag ist zuerst am 11. Januar in englischer Sprache auf der Homepage des Kurdish Peace Institut erschienen.