Feminisierung der Politik: Interview von REPAK mit Ilham Ehmed
Das kurdische Frauenbüro REPAK hat mit Ilham Ehmed (MSD) über die in jüngerer Zeit viel diskutierte Idee einer „feministischen Politik“ gesprochen.
Das kurdische Frauenbüro REPAK hat mit Ilham Ehmed (MSD) über die in jüngerer Zeit viel diskutierte Idee einer „feministischen Politik“ gesprochen.
In letzter Zeit wurde viel über die Idee der „feministischen Politik” gesprochen. Minister:innen und Politiker:innen sprechen von einer „Feminisierung der Politik”. Aber was bedeuten diese Ausdrücke? Was kennzeichnet feministische Politik? REPAK, das kurdische Frauenbüro für internationale Beziehungen mit Sitz in Silêmanî in Südkurdistan, sprach mit Ilham Ehmed, Ko-Vorsitzende des Exekutivkomitees des Demokratischen Rates Syriens (MSD), über diese Frage. Das Interview wurde zuerst auf der Facebook-Seite von REPAK veröffentlicht.
Die Zeiten, in denen wir leben, zeigen, dass sich die Welt in einer Systemkrise befindet. Was sind die Hintergründe dieser Krise? Auf welcher Grundlage können wir behaupten, dass sich das herrschende System in einer Krise befindet?
Alle Kriege, die derzeit in unserer Welt geführt werden, sind eine direkte Folge der Krise des globalen Systems. Nach dem Kalten Krieg wurde die Welt erneut geteilt und erobert, sie wurde zu einer unipolaren Ordnung umgestaltet, in der die USA die führende Rolle einnahmen. Doch als Folge der US-amerikanischen Politik entstanden neue politische Leerstellen. Der technologische Fortschritt und das globale Weltsystem gaben anderen Ländern die Möglichkeit, ihre Wirtschaft zu entwickeln und die unipolare Weltordnung herauszufordern. Der Wettbewerb zwischen China und den USA hat große Auswirkungen auf die ganze Welt. Am stärksten wirkt er sich auf den Nahen Osten aus, weil diese Region am meisten für ihre Zwecke genutzt wird – ein Schlachtfeld für beide Seiten. Die am Wettbewerb beteiligten Seiten führen ihre Kriege hier auf diesem Schlachtfeld. Die Klimakrise wird ständig diskutiert und viele internationale Konferenzen werden dazu abgehalten, aber jedes Treffen bringt neue Probleme statt einer Lösung. Das liegt daran, dass das kapitalistische System unter dem Deckmantel von Lösungen immer neue Katastrophen schafft. Die Weltwirtschaft ist in der Krise, es gibt eine ökologische Krise, und immer neue Krankheiten entstehen. Gleichzeitig gibt es diejenigen, die nach einem neuen politischen System suchen, da die alten Machtblöcke sich im Wandel befinden. Die NATO macht derzeit eine schwierige Zeit durch. Dies alles ist eine Folge der Krise des internationalen Systems. Das System wird sich zwangsläufig verändern – entweder wird es reformiert oder zerstört werden. Bis dahin wird das System noch mehr Zerstörung bringen. Neben dem Nahen Osten befinden sich auch Europa, Russland, Großbritannien und die USA mitten in einer Katastrophe.
Welche Verantwortung tragen die politischen Institutionen bei der derzeitigen Krise in der Welt?
Um Probleme richtig zu lösen, muss jede Gesellschaft und jede Region in der Lage sein und die Möglichkeit haben, ihre eigenen Probleme entsprechend ihren eigenen Bedürfnissen zu lösen. Das herrschende System kann keine Lösungen erfinden und sie der Gesellschaft aufzwingen.
Wie stehen das System des Nationalstaates, Autoritarismus und Patriarchat politisch miteinander in Beziehung? Wie können wir diese Beziehung verstehen?
Der Staat übernimmt die Rolle des „Patriarchen” der Gesellschaft und unterdrückt damit alle Versuche, gemeinschaftliche Lösungen zu finden. Das staatliche und das patriarchale System sind ein und dasselbe. Die Rolle der Frau ist in diesem System nicht vorhanden. Der Staat nimmt Frauen alle Lebens- und Denkmöglichkeiten und macht sich zum Eigentümer der Gesellschaft. Er opfert alles für die Existenz seiner eigenen Autorität, und so werden die Gesellschaft und die Menschen ihres Willens und der Möglichkeit der Selbstbestimmung beraubt. Diejenigen, die im Staat eine Führungsrolle innehaben und die Denkweise der Gesellschaft kontrollieren, und die Frauen, die innerhalb des Staatssystems agieren, arbeiten für die Erhaltung dieses Systems. Bisher hat sich noch keine Frau, die eine Führungsrolle im Staatssystem übernommen hat, vom System selbst gelöst. Das ist die eine Seite des Problems und ein wichtiges Thema für die Frauenbewegung.
In letzter Zeit werden häufig Begriffe wie „feministische Außenpolitik” oder sogar „feministische NATO” verwendet. Macht das Engagement einer Frau in der Politik ihre Politik automatisch „feministisch”? Glauben Sie, dass politische Ansätze auf der Ebene des Nationalstaates feministisch sein können?
„Feministische NATO” ist ein seltsamer Ausdruck. Es ist bekannt, dass die NATO eine militärische Struktur und mit dem internationalen System verbunden ist. Ihre Ziele sind sehr klar. Ihr Hauptanliegen sind Waffen und Krieg. Wenn die Präsenz von Frauen in den NATO-Strukturen den Ansatz der Institution tatsächlich in einer Weise verändern würde, die den Frieden fördert und den Krieg beendet, wäre das eine sehr wichtige Entwicklung. In Wirklichkeit aber werden Frauen zu einem Werkzeug in den Händen des Systems, und zwar so sehr, dass die politischen Ziele des herrschenden Systems nun von Frauen verwirklicht werden. Eine Institution, die sich innerhalb des Systems befindet, kann nicht feministisch werden. Die Frauen innerhalb der NATO sollten die Frauen und die Gesellschaft vor dem Krieg schützen, aber das geschieht nicht. Infolgedessen werden sie einfach zu einem politischen Werkzeug. Es besteht jetzt eine große Gefahr für Frauen. In der gegenwärtigen politischen Ordnung gibt es viele neue Möglichkeiten für Frauen. Frauen spielen in großer Zahl eine wichtige Rolle in Entscheidungsprozessen. Aber leider ist es klar, dass das System diese Frauen nur benutzt, anstatt sie zu befreien.
In der Türkei helfen viele Frauen, die Flammen des Krieges zu schüren. In Finnland besteht die Hälfte der Regierung aus Frauen, die jedoch die Kurden an die Türkei ausliefern und im Einklang mit den Interessen des herrschenden Systems handeln. In Deutschland war die Bundeskanzlerin eine Frau, aber politisch gab es keinen Unterschied zwischen ihr und einem Mann. Sie verbündete sich immer mit Erdogan und bot keine Änderungen für die Situation der Unterdrückten. In Schweden war eine Frau Außenministerin, die jedoch keinerlei Druck auf den türkischen Staat ausübte, stattdessen ein Abkommen gegen die Gesetze ihres eigenen Landes unterzeichnete und die Rechte der Kurdinnen und Kurden ignorierte und sie dem faschistischen türkischen Staat opferte. Was ich damit sagen will, ist, dass es zwar ein historischer Schritt ist, dass Frauen ihren Platz in den Zentren der Entscheidungsfindung eingenommen haben, dass aber die Entscheidungsfindung von Frauen Prinzipien haben und auf dem politischen Willen der Frauen beruhen muss. Dies ist von entscheidender Bedeutung. Die Kultur und das Bewusstsein für die Arbeit und die Beteiligung von Frauen sind wichtig.
Was sind Ihrer Meinung nach die besonderen Merkmale feministischer Politik?
Feministische Politik sollte nicht nur für den Schutz von Frauen, sondern auch für den Schutz der Gesellschaft sein. Sie sollte ökologisch sein. Es muss ein Gleichgewicht zwischen Gesellschaft und Natur gefunden werden. Feministische Politik sollte sich gegen Krieg stellen. Sie sollte die Gleichheit zwischen den Geschlechtern herstellen.
In Rojava, also in Nord- und Ostsyrien, versuchen Sie, eine weibliche Perspektive auf die Politik zu entwickeln. Wie lässt sich das in der Praxis erreichen? Was trägt es zu Demokratie, Freiheit und Frieden bei?
In allen Bereichen organisieren sich Frauen selbständig. Zu allen Themen entwickeln Frauen eigenständige Ansichten und bringen ihre politischen Perspektiven zum Ausdruck. In einer kooperativen Art und Weise werden sie zu gleichberechtigten Teilhabenden der Gesellschaft. Sie kämpfen und organisieren sich zu allen Themen auf Grundlage politischer und ethischer Prinzipien der Gesellschaft. Dabei treten häufig Hindernisse und Unzulänglichkeiten auf, die jedoch in bestimmten Versammlungen und Konferenzen angesprochen werden. Die autonome Organisierung der Frauen garantiert, dass die spezifischen Anliegen von Frauen geschützt werden, ebenso wie ihren Einfluss auf und in der Politik im Allgemeinen.
Was ist Ihr Aufruf an die Politiker:innen der Welt?
Wenn Frauen heute in der Lage sind, Führungspositionen einzunehmen, dann ist dies das Ergebnis vieler großer Frauenkämpfe. Frauen haben Möglichkeiten geschaffen und ergriffen, um eine starke Rolle in der Organisierung des Lebens zu spielen. Diese Möglichkeiten dürfen wir nicht verlieren. Frauen müssen mit ihrer eigenen Stimme und ihren eigenen Ansätzen im Mittelpunkt aller Entscheidungsprozesse stehen. Es ist tatsächlich möglich, die Welt zu verändern und die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen. Denken Sie an den Schmetterlingseffekt – selbst kleine Handlungen können die Tür zu neuen Möglichkeiten öffnen.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.