Altan: Repression gegen freie Medien zur Passivisierung der Gesellschaft

In der Türkei sind rund 95 Prozent der Print- und Fernsehmedien in der Hand des Staates oder unter der Kontrolle von regierungstreuen Unternehmen. Nun sollen auch alternative Digitalmedien unterworfen werden.

In der Türkei sind rund 95 Prozent der Print- und Fernsehmedien in der Hand des Staates oder unter der Kontrolle von Unternehmen, die der Regierung von Recep Tayyip Erdogan nahe stehen. Der Druck auf unabhängigen Journalismus ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Insbesondere seit dem Pseudoputsch im Juli 2016 schließt sich das Fenster für regierungskritische Medien immer weiter. Auch der Medienpluralismus ist weitgehend zerstört. Dennoch gibt es noch immer unabhängige Medienorganisationen, die nicht ans Kapitulieren denken und trotz aller Schwierigkeiten ihre Nachrichten an die Öffentlichkeit vermitteln, vor allem im digitalen Raum. Die Online-Redaktionen laufen den nahezu vollständig gleichgeschalteten Medien zunehmend den Rang ab. Und sie sind schwerer zu kontrollieren als die klassischen Analog-Redaktionen. Bisher jedenfalls. Die türkische Regierung betrachtet die alternativen Informationskanäle als „fünfte Kolonne” und droht ihnen mit weiterer Unterdrückung.

Regierung: Lügenpresse und Fake-News-Terror

Vergangenes Jahr hatte das türkische Parlament bereits ein Gesetz verabschiedet, das digitale Plattformen wie Twitter, Facebook und Instagram einer schärferen Kontrolle unterzieht. Seitdem sind diese unter anderem dazu verpflichtet, auf Anfrage bestimmte Inhalte zu löschen oder zu sperren. Nun soll im Herbst ein weiteres Gesetz auf den Weg gebracht werden, das kritische Internetmedien stärker regulieren soll. Vor allem solche, die mit Mitteln aus dem Ausland finanziert werden. Das Vorhaben richtet sich direkt gegen die unabhängigen Digitalmedien. Man wolle damit dem „Lügenterror” den Garaus machen und „Aktivitäten einer fünften Kolonne in neuer Tarnung unterbinden”, hieß es aus dem Regierungslager.

Altan: Journalismus ist in der Türkei eine Straftat

„In der Türkei gilt Journalismus faktisch als eine Straftat“, kommentiert Serdar Altan, Ko-Vorsitzender des in Amed (tr. Diyarbakir) beheimateten Journalistenvereins Dicle Fırat (DFG), die Situation der Presse im Land. Durch die Unterdrückung der Medien und unabhängiger Informationen betreibe die Regierungskoalition aus der islamistischen AKP und ihrem rechtsextremen Partner MHP eine „Passivisierung der Gesellschaft”, meint Altan. „Seit 2002 regiert und dominiert die AKP die türkische Politik. Genauso lange zieht sie bereits die Zügel bei den Medien weiter an und versucht durch verschiedene Methoden, die freie Presse zum Schweigen zu bringen. In Diktaturen kann per se keine Pressefreiheit herrschen, da der Staat die Geschicke lenkt und keinerlei unabhängige Berichterstattung zulässt. Die autokratische Regierungskoalition bemüht sich immer aggressiver, die Wahrheit um jeden Preis zu unterdrücken und die Öffentlichkeit vom Informationsfluss abzuschneiden.”

Serdar Altan

Staat will Medienlandschaft neutralisieren

Es ginge dem Staat darum, hundert Prozent der Medien zu unterwerfen, sagt der Journalist Serdar Altan. Eroberungssüchtig werde so lange an der Repressionsschraube gedreht, bis auch die letzten fünf Prozent der freien Presse unterworfen sind. „In der gegenwärtigen Situation ist das Regime intensiv darum bemüht, mittels Gewalt die Medienlandschaft zu neutralisieren. Das bekommen Journalistinnen und Journalisten derzeit relativ häufig zu spüren. Insbesondere bei der Berichterstattung von Demonstrationen und anderen öffentlichen Versammlungen: Medienschaffende werden von der Polizei gewaltsam angegriffen und festgenommen. Ihre Ausrüstung wird beschlagnahmt oder beschädigt. Sie werden daran gehindert, ihre Tätigkeit auszuüben. Hierfür wurde eigens eine polizeiliche Anordnung erlassen. Das Rundschreiben sieht vor, Ton- und Bildaufnahmen von Sicherheitskräften bei Demonstrationen zu unterbinden. Noch fataler ist jedoch, dass Medienschaffende systematisch angegriffen und gefoltert werden“, hebt Altan hervor.

Besorgniserregender Anstieg von Gewalt gegen Medienschaffende

Seit dem Erlass der Anordnung der Zentralbehörde der Polizei vom 27. April ist ein massiver Anstieg staatlicher Gewalt bei gesellschaftlichem Dissens gegen Vertreterinnen und Vertreter der Presse zu beobachten. Darauf weist auch der DFG-Vorsitzende Serdar Altan hin. Insbesondere bei der Gedenkveranstaltung am 20. Juli in Istanbul für die Opfer des IS-Anschlag von Pirsûs (tr. Suruç) und den Protesten gegen den Mord an einer kurdischen Familie in Konya vergangenes Wochenende habe die Polizegewalt gegen die anwesenden Journalist:innen eine neue Stufe erreicht. „Unsere Kolleginnen und Kollegen sind nicht nur von staatlichen Kräften angegriffen und festgenommen worden. Sie wurden auch von Rassisten attackiert. Wir verzeichnen in allen Bereichen Angriffe auf Medienschaffende. Hinzu kommt die juristische Schikane in Form von Anklagen und drakonischen Strafen, die drohen. Journalist:innen der freien und unabhängigen Presse sollen auf diese Weise systematisch neutralisiert werden.“

Spitzelanwerbeversuche häufen sich

Laut Altan häufen sich zudem die Fälle von Spitzelanwerbeversuchen bei Medienschaffenden. Zuletzt habe die Polizei zwei Journalistinnen in Ankara und Amed als Spitzel gewinnen wollen: „Sie wurden mitten auf der Straße angehalten und in ein Polizeifahrzeug verfrachtet. Bei diesem Vorgang handelt es sich um eine illgelale Festnahme. Wir wissen, dass die Handelnden Angehörige des türkischen Geheimdienstes MIT und der Polizei sind. Ohnehin weisen sie sich als solche aus. Sie sehen es nicht als erforderlich an, ihre Identität zu verschweigen, da sie keine Strafverfolgung zu befürchten haben. Das, was sich der Staat hier leistet, verstößt gegen die eigenen Gesetze und stellt ein moralisch höchst verwerfliches Verhalten dar. Wir als DFG verurteilen dieses staatliche Vorgehen und sagen: Hände weg von der Presse. Ganz gleich, wie kräftig an der Repressionsschraube gedreht wird: die freie Presse wird nicht kapitulieren, sondern stets die Wahrheit an die Öffentlichkeit bringen.”