Seit Januar läuft an einem Strafgericht in Istanbul bereits der Prozess gegen Hüsamettin Tanrıkulu, an diesem Mittwoch fand die dritte Hauptverhandlung statt. Die Anklage wirft dem Kurden vor, Mitglied der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein, und fordert eine Freiheitsstrafe von bis zu fünfzehn Jahren. Glaubt man der Staatsanwaltschaft, soll der 22-Jährige im selbstverwalteten Flüchtlingslager Lavrio südöstlich der griechischen Hauptstadt Athen im „Bombenbau“ ausgebildet worden und danach illegal in die Türkei eingereist sein, um „auf Anordnung der Terrororganisation aufsehenerregende Anschläge“ in den Metropolen des Landes zu verüben. Tanrıkulu weist die Vorwürfe zurück. Seine Verteidigerin Nagehan Avçil spricht von erfundenen Anschuldigungen, falschen Beweisen und einem manipulierten Zeugen, der aus Angst vor einer Inhafftierung dazu „tendiere”, dass der Angeklagte tatsächlich PKK-Mitglied sein könnte, es aber nicht wirklich wisse.
Seit der Jugend im Fokus der Polizei
Hüsamettin Tanrıkulu stand vor dem Hintergrund seines Engagements für den Jugendrat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) seit seiner Pubertät im Fokus der türkischen Repressionsbehörden. Wiederholt wurde er wegen seines Aktivismus vorübergehend festgenommen und von der Polizei oder Staatsanwaltschaft zum Verhör vorgeladen. 2019 musste er Misshandlungen in Gewahrsam erdulden, weil er sich in Êlih an Protesten gegen die Überflutung der historischen Stätte Heskîf (Hasankeyf) durch den Ilisu-Staudamm beteiligt hatte. Im Jahr zuvor wurde er in Amed von Zivilpolizisten verschleppt und zur Agententätigkeit gedrängt. Er machte den Vorfall öffentlich – und zog den Zorn der Sicherheitsbehörden auf sich. Seit vergangenem September sitzt er nun im berüchtigten Foltergefängnis Silivri ein – unschuldig, wie er und seine Anwältin Nagehan Avçil immer wieder betonen.
Hüsamettin Tanrıkulu
Warnung eines „besorgten Bürgers” mit Quelle in Zentralbehörde der Polizei
Die Verhaftung Tanrıkulus und die Anklage gegen ihn gehen zurück auf eine vermeintliche „Erfolgsgeschichte” von Süleyman Soylu, Ex-Innenminister und nationalistischer Scharfmacher im nach der jüngsten Parlamentswahl ausgetauschten Kabinett von Recep Tayyip Erdoğan. Dieser hatte den Aktivisten öffentlichkeitswirksam kriminalisiert sowie als „Terroristen” dargestellt und als erster die Story vom angeblichen „Bombenbautraining” in Lavrio aufgetischt. Kaum war die Nachricht über den angeblichen Attentäter, der in der „europäischen Brutstätte des PKK-Terrors” ausgebildet worden sei, durch die regierungstreue Presselandschaft der Türkei gezogen, wurde Tanrıkulu auch schon festgenommen. Es war wohl ein Zufall, dass wenige Tage zuvor eine vermeintlich anonyme E-Mail an die Präsidien in den kurdischen Städten Şirnex und Silopiya verschickt wurde, in der vor dem Aktivisten „gewarnt“ wurde. Mit Tanrıkulu sei ein „brandgefährlicher Terrorist“ unterwegs, der es auf die Sicherheitskräfte des Landes abgesehen hätte, hieß es darin. Rechtsanwältin Nagehan Avçil fiel es nicht schwer nachzuweisen, dass die vermeintliche Denunziation eines „besorgten Bürgers” ihre Quelle in der Zentralbehörde der türkischen Polizei hatte. Erstaunlich sei auch gewesen, dass die Festnahme einer „tickenden Zeitbombe” erst vier Tage nach der Warnung erfolgte. Das Gericht musste davon absehen, den Absender als Zeugen zu laden.
Behandlung nach Feindstrafrecht
Überhaupt gebe es keinen einzigen Beweis, der die Anklage gegen ihren Mandanten stützen würde, meint Avçil. Der Reisepass, der belegen soll, dass Tanrıkulu nach Griechenland gereist sei, gehöre nicht ihm sondern seinem Cousin. Auch eine Auswertung der Handydaten des Aktivisten zeigten nicht auf, dass er sich zu irgendeinem Zeitpunkt außerhalb der Türkei oder in der Nähe zur griechischen Grenze aufgehalten hat. Die von der Anklage als Zeuge präsentierte Person sei früher ebenfalls im HDP-Jugendrat aktiv gewesen und massiv eingeschüchtert worden, den Mandanten zu belasten. Trotz seiner Angst, selbst im Gefängnis zu landen, habe der Zeuge ausgesagt, nicht zu wissen, ob Tanrıkulu Verbindungen zur PKK hat. Avçil forderte daher bei der heutigen Verhandlung: „Die Justiz darf nicht an einer weiteren Behandlung nach Feindstrafrecht festhalten. Mein Mandat ist unschuldig und muss freigesprochen werden.“ Das Gericht verwarf den Antrag und ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft an. Zur Begründung hieß es, es bestehe weiterhin dringender Tatverdacht, außerdem liege der Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Der Prozess wird am 7. Juli fortgesetzt.