Im Zusammenhang mit den andauernden Studierenden-Protesten in der Türkei hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) scharfe Kritik am Vorgehen der Behörden geäußert. „Die türkischen Behörden haben auf die Proteste konsequent mit übermäßigem Einsatz von Gewalt und willkürlicher Inhaftierung reagiert“, hieß es in einer Mitteilung von HRW von Donnerstag. Stein des Anstoßes war die Ernennung eines neuen Rektors für die Istanbuler Boğaziçi-Universität durch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
Die Studierenden und Lehrkräfte der renommierten Hochschule am Bosporus sowie Unterstützende protestieren seit Anfang Januar gegen die Ernennung des Erdoğan-Günstlings Melih Bulu zum Rektor und damit gegen die Übergehung der akademischen Autonomie. Die staatliche Reaktion auf die Proteste ist von extremer Homophobie geprägt, da sich auch LGBTI-Personen daran beteiligen. Sie werden besonders stigmatisiert und als „Terroristen” kriminalisiert. Seit Beginn der Proteste wurden mindestens 563 Studierende gewaltsam festgenommen, unter anderem bei martialischen Razzien, elf inhaftiert und 24 in Hausarrest genommen. Dutzende mussten in Gewahrsam Nacktdurchsuchungen erdulden, wurden beschimpft und geschlagen. Auch HRW berichtet von Leibesvisitationen von festgenommenen Studierenden, darüber hinaus von Vergewaltigungsandrohungen und transfeindlichen Beleidigungen. Bisher wurden nur zwei Studierende aus der Untersuchungshaft entlassen.
Die Studierenden und der Lehrkörper der Universität hätten von ihrem Recht Gebrauch gemacht, friedlich ihren Widerspruch auszudrücken, kommentierte HRW die Proteste. „Die unabgesprochene Aufzwingung eines vom Präsidenten ernannten Rektors lege einen Mangel an Respekt gegenüber akademischer Freiheit und Autonomie von Universitäten in der Türkei offen”, sagte Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien von HRW. Die gewaltsamen Verhaftungen verkörperten die Missachtung grundlegender Menschenrechte durch die Regierung, hieß es. Die türkischen Behörden sollten das Versammlungsrecht achten, den missbräuchlichen Einsatz von Polizeigewalt stoppen und die sofortige Freilassung willkürlich inhaftierter Studierenden veranlassen, forderte HRW.
Genocide Watch: Türkei weist das Potenzial zu einem Völkermord auf
Die Organisation „Genocide Watch“ warnt mit Blick auf die Gewalt gegen die Studierenden-Proteste vor Anzeichen eines Völkermords. Die Türkei befinde sich auf der siebten Stufe: Vorbereitung. „Je mehr Proteste es gibt, desto mehr wird Erdoğan den Verlust seiner Macht fürchten. Er wird gegen die Proteste vorgehen und die Türkei in eine antidemokratische Autokratie verwandeln”, teilte die NGO bereits Anfang Februar mit. Die Organisation fordert ein sofortiges Ende von Erdoğans Hatespeech und Hetze gegen die LGBT+-Community sowie den Schutz des Rechts von Meinungs- und Demonstrationsfreiheit der Studierenden.
Genocide Watch koordiniert die „internationale Kampagne zur Beendigung von Völkermord“, die sich auf die Vorhersage, Verhinderung und Beendigung von Völkermord und andere Formen des Massenmords sowie die Bestrafung der Täter konzentriert. Laut der Organisation gibt es zehn Phasen eines Genozids, die vorhersehbar, aber nicht unaufhaltsam sind: Klassifizierung, Symbolisierung, Diskriminierung, Entmenschlichung, Organisierung, Polarisierung, Vorbereitung, Verfolgung, Vernichtung und Verleugnung.