Boğaziçi-Solidarität: Sie sind kein Sultan, wir keine Untertanen

In einem offenen Brief der Initiative Boğaziçi-Solidarität an Staatspräsident Erdogan heißt es: „Verwechseln Sie uns nicht mit bedingungslos Gehorsamen. Weder sind Sie unser Sultan noch sind wir Ihre Untertanen.“

Die Proteste gegen die Ernennung des AKP-Politikers Melih Bulu zum Rektor der Istanbuler Boğaziçi-Universität dauern seit über einem Monat an. Der türkische Präsident Erdogan nutzt jede Gelegenheit, um die Studierenden zu diffamieren und anzugreifen. Am Freitag erklärte er zu der Forderung nach einem Rücktritt des von ihm persönlich berufenen Rektors: „Wenn ihr Mut ausreicht, werden sie auch noch den Rücktritt des Staatspräsidenten fordern.“ Auf Twitter brach daraufhin ein Shitstorm mit Rücktrittsforderungen los.

Die Initiative Boğaziçi-Solidarität hat zu diesem Thema einen „offenen Brief an den 12. Staatspräsidenten“ veröffentlicht. In dem Brief heißt es: „Verwechseln Sie uns nicht mit bedingungslos Gehorsamen. Weder sind Sie unser Sultan noch sind wir Ihre Untertanen. Sie haben von Mut gesprochen. Wir genießen keine Immunität. Sie hingegen plustern sich seit 19 Jahren hinter dem Panzer der Immunität auf. Sie nennen unsere LGBTI+Freund*innen pervers. Wir sagen, dass LGBTI-Rechte Menschenrechte sind. (…) Sie halten die HDP-Vorsitzenden, Journalist*innen, Gewerkschafter unrechtmäßig im Gefängnis fest. Wir sagen, dass wir zusammen mit allen stehen, die ohne Angst die Wahrheit herausschreien. Wir sind gegen alle Zwangsverwalter.“

Die Initiative schreibt weiter, dass der Brief mit Sicherheit ein Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung nach sich ziehen wird. Man werde trotzdem nicht darauf verzichten, die Wahrheit zu sagen: „Uns ist bewusst, dass die Boğaziçi-Universität nicht die wichtigste Institution und die Ernennung von Melih Bulu als Zwangsverwalter nicht das wichtigste Problem der Türkei ist. Was die Forderung nach Ihrem Rücktritt betrifft: Wegen dieser Angelegenheit rufen wir Sie nicht zum Rücktritt auf. Und warum? Wenn Sie einen Rücktritt in Betracht ziehen würden, hätten Sie das bereits getan, als Hrant Dink ermordet wurde. Sie wären zurückgetreten, als in Soma 301 Minenarbeiter getötet wurden. Sie hätten es getan, als in Roboski 34 Kurden ermordet wurden. Sie wären nach dem Zugunfall in Çorlu zurückgetreten. Sie wären zurückgetreten, als Sie gesehen haben, dass Tausende Bürgerinnen und Bürger Probleme mit ihrem Lebensunterhalt haben, weil sie keine Arbeit finden oder ihnen ihre Arbeit, insbesondere über Ihre Dekrete, genommen wurde. Anstatt Ihren Schwiegersohn zu opfern, als es keinen Ausweg mehr aus Ihrer Wirtschaftspolitik gab, die die Bevölkerung zur Armut verurteilt hat, hätten Sie die Verantwortung übernommen. Es könnten noch mehr Beispiele aufgeführt werden, aber Sie sind niemals zurückgetreten.“

Die Initiative kündigt an, dass die Proteste fortgesetzt werden, solange Melih Bulu weiter als Rektor fungiert und das Unrecht nicht aufhört.