Schlechte Sozialprognose: Lebenslängliche bleiben in Haft

Die Kurden Kasım Karataş und Osman Kılavuz wurden 1993 in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt. Eigentlich hätten sie bereits entlassen werden sollen, wäre da nicht das türkische Feindstrafrecht.

Die Türkei verfügt über ein breitgefächertes Repertoire an strategischen Instrumenten der antikurdischen Aufstandsbekämpfung. Hinter den Mauern der Gefängnisse hat sich vor einigen Jahren die Methode etabliert, aus politischen Gründen verurteilte Kurdinnen und Kurden trotz Vollendung ihrer regulären Haftzeit nicht freizulassen. Wie bei politischen Gefangenen üblich, hängt die Freilassung von der Sozialprognose eines Kontrollausschusses ab, der sich aus dem Strafvollzugspersonal zusammensetzt und gravierende juristische Befugnisse übernimmt. Das Ergebnis sind willkürliche Entscheidungen mit geradezu grotesken Begründungen, die ein Konzept des Feindstrafrechts offenlegen.

Die jüngsten Opfer dieser menschenunwürdigen Praxis sind Kasım Karataş und Osman Kılavuz, zwei „Lebenslängliche“, die derzeit im Hochsicherheitsgefängnis der westtürkischen Provinz Tekirdag festgehalten werden. Karataş, mit seinen 60 Jahren der ältere von beiden, wurde 1993 von einem Staatssicherheitsgericht (DGM) in Izmir wegen des Vorwurfs der „Störung der Einheit und Integrität des Staates“ zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Am vergangenen Mittwoch hätte er eigentlich freikommen müssen. Doch der Verwaltungsausschuss stellte ihm eine schlechte Sozialprognose aus.

Das bisherige Verhalten von Karataş in Haft sei nicht „regelkonform“ gewesen, heißt es. Er habe sich geweigert, an Gruppenaktivitäten teilzunehmen und es abgelehnt, ein Reuebekenntnis abzulegen. Darüber hinaus habe er sich zu Schulden kommen lassen, bei Zellendurchsuchungen nicht mit dem Personal zu kooperieren, und hinsichtlich seiner Rechte „allgemein in schlechter Absicht“ gehandelt. Mehrfach sei er deshalb sogar mit Disziplinarmaßnahmen belegt worden. Dies zeige, dass er für eine „Wiedereingliederung in das soziale Gefüge der Gesellschaft“ nicht bereit sei. Die nächste Prüfung in seinem Fall soll in drei Monaten erfolgen. Bis dahin bleibt Karataş im Gefängnis.

Der Menschenrechtsverein IHD verurteilte den Umgang der Vollzugsbehörde mit Karataş auf das Schärfste. Der 60-Jährige müsse umgehend freigelassen werden, fordert die Organisation – nicht nur im Hinblick auf die bereits abgesessene Haftzeit. Karataş wird vom IHD in der Liste der schwerkranken Gefangenen geführt. 2016 hatte er eine Bypass-OP, bei der am offenen Herzen operiert wird. Zudem leidet er an diversen chronischen Erkrankungen, darunter Diabetes und Hypertonie. Zu guter Letzt muss er eine entzündliche Magenerkrankung erdulden. Sein in Riha (tr. Urfa) ansässiger Rechtsanwalt habe Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt, teilte der IHD mit.

Auch im Fall von Osman Kılavuz gehen Jurist:innen derzeit gegen die verweigerte Entlassung vor – allerdings nicht zum ersten Mal. Dem 49-Jährigen, der ebenfalls 1993 von einem DGM, allerdings in Amed (Diyarbakir), zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, sei die Haftentlassung bereits zum dritten Mal verweigert worden. „Völlig willkürlich und unfassbar“, sagen seine Anwält:innen. Die Begründung des Verwaltungsausschuss wirke wie ein im Copy-Paste-Verfahren kümmerlich zusammengebasteltes Konstrukt: Fehlende Reue, keine Teilnahme an Gruppenaktivitäten, zahlreiche Disziplinarstrafen wegen regelwidrigem Verhalten. Mit derselben Argumentation gelangte der Ausschuss bereits bei Kasım Karataş zu der „Erkenntnis“, dass er nicht bereit für eine Resozialisierung sei. „Faktisch wird er dafür bestraft, dass er nicht von seiner politischen Gesinnung, die dem Staat nicht in den Kram passt, abkehrt“, kritisiert sein Rechtsbeistand.