Vor 24 Jahren ist die Initiative der Samstagsmütter zum ersten Mal in Istanbul auf die Straße gegangen, um gegen die staatliche Praxis zu demonstrieren, Menschen in Gewahrsam zu ermorden und die Leichen verschwinden zu lassen, sowie eine Bestrafung der Täter zu fordern. Seit vergangenem Jahr wird ihr angestammter Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium im Stadtteil Beyoğlu jeden Samstag von der Polizei abgeriegelt, um die Aktion zu unterbinden. Die Frauen und ihre Unterstützer*innen halten ihre Kundgebung daher in einer kleinen Seitenstraße vor der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD ab. Jede Woche wird ein anderer Fall vorgestellt, vor allem aus den 1990er Jahren, als das „Verschwindenlassen“ besonders weit verbreitet war.
Die heutige Mahnwache fand wie in den Monaten zuvor wieder in einem Polizeikessel statt. Unterstützt wurden die Samstagsmütter von den HDP-Abgeordneten Meral Danış Beştaş, Hüda Kaya, Oya Ersoy und Musa Piroğlu, den IHD-Vorsitzenden Eren Keskin und Öztürk Türkdoğan sowie der Schauspielerin Nur Sürer und zahlreichen Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen und politischen Parteien. Es war bereits die 766. Kundgebung der Initiative. Thematisiert wurde das Schicksal von Nihat Akdoğan, einem Landwirt aus Midyad (Midyat, Provinz Mêrdîn/Mardin), der heute vor 25 Jahren das letzte Mal lebend gesehen wurde. Besna Tosun, deren Vater Fehmi Tosun zu den „Verschwundenen“ gehört, schilderte die Hintergründe des „Verschwindenlassens“ von Akdoğan.
Besna Tosun verliest eine Erklärung der Samstagsmütter
„Nihat Akdoğan war 39 Jahre alt, als er verschwand. Er lebte im Dorf Doğançay von Viehzucht und Landwirtschaft. Die Ortschaft weigerte sich damals kollektiv, trotz staatlicher Repression und Gewalt Teil des Dorfschützer-Systems zu werden. Am 30. November 1994 stürmten etliche Spezialeinheiten, Soldaten und Dorfschützer gegen 5 Uhr morgens das Haus der Familie Akdoğan. Nihat wurde aus seinem Bett geprügelt. Als er blutüberströmt auf dem Boden lag, wurden ihm die Augen verbunden und seine Hände gefesselt. Zunächst brachte man ihn in die Wache der Militärpolizei (Jandarma) in Midyad, anschließend wurde er in die Generalkommandantur in Mêrdîn verlegt.
Offiziellen Angaben nach soll Nihat Akdoğan 20 Tage nach seiner Festnahme an einen diensthabenden Staatsanwalt überstellt worden sein. Nach seiner Vernehmung habe man ihn auf freien Fuß gesetzt. Stichfeste Beweise, die diese Behauptung stützen, konnten jedoch nie geliefert werden. Von Nihat Akdoğan fehlt nach wie vor jede Spur.
Necbir Akdoğan, Tochter von Nihat Akdoğan
Nach vielen Jahren tauchte Nihat Akdoğans Name urplötzlich im Todesregister auf. Der Dorfvorsteher, der seinen ‚Tod’ den Behörden gemeldet hatte, gab an, vom Kommandanten der Militärpolizei gezwungen worden zu sein, die falsche Todesmeldung abzugeben.
Seit einem Vierteljahrhundert bereits versuchen die Hinterbliebenen von Nihat Akdoğan in Erfahrung zu bringen, was mit ihrem Sohn, ihrem Vater, ihrem Bruder geschah. Auf entsprechende Anträge bei staatlichen Behörden erfolgt keine Reaktion. Auch auf Forderungen unserer Initiative, Ermittlungen zum Schicksal dieses Menschen einzuleiten, wurde bisher nicht reagiert. Wir fordern die Regierung daher erneut auf, endlich das Schicksal von Nihat Akdoğan öffentlich zu machen. Die Täter müssen angeklagt und bestraft werden.”