Mordfall Tahir Elçi: Staatsanwaltschaft legt Anklageschrift vor

Vor rund viereinhalb Jahren wurde der kurdische Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi in Amed auf offener Straße von einem Polizisten erschossen. Erst jetzt legt die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift vor. Und fordert ein Strafmaß von maximal sechs Jahren.

Rund viereinhalb Jahre nach dem Mord an dem Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer in Amed (türk. Diyarbakir), Tahir Elçi, hat die Staatsanwaltschaft beim 10. Schwurgerichtshof Diyarbakir eine Anklageschrift gegen drei Tatverdächtige eingereicht. Die Behörde wirft den Polizisten F.T., M.S. und S.T. Totschlag vor und fordert ein Strafmaß zwischen zwei und sechs Jahren, da der Tod Elçis auf eine „bewusste Fahrlässigkeit“ zurückzuführen sei. Unklar ist, wann der Prozess beginnen könnte. Vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie arbeitet die türkische Justiz inzwischen eingeschränkt.

Rückblick: Am 28. November 2015 hält der Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi im Altstadtbezirk Sûr eine Presseerklärung ab. Nur wenige Monate zuvor hat die HDP (Demokratische Partei der Völker) bei den Parlamentswahlen das Streben Erdoğans nach einem Präsidialsystem vorerst abgebremst. Dies hat zur Folge, dass der schmutzige Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung wieder ausgeweitet wird. Als Reaktion proklamieren einige kurdische Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung – als demokratischen Gegenentwurf zu dem von der AKP vorgeschlagenen totalitären Ein-Mann-System. Es folgen erste Ausgangssperren und eine über mehrere Monate andauernde Militärbelagerung. So auch in Sûr.

Tahir Elçi ruft am Tag seines Todes zu Frieden auf. „Wir wollen in diesem Gebiet, das Heimat und Wiege so vieler Zivilisationen war, keine Gewalt, keinen Krieg, keine Zerstörung und keine bewaffneten Operationen“, sagt er vor der Şêx-Matar-Moschee am „vierbeinigen Minarett“, einem historischen Baudenkmal. „Dies ist ein gemeinsamer Ort der Menschlichkeit. Lasst uns für unsere Geschichte und unsere Werte eintreten“.

Tahir Elçi bei der Presseerklärung am 28. November 2015

Etwa zeitgleich steigen Uğur Yakışır und sein Cousin Mahsun Gürkan, beide Mitglieder der YPS (Yekîneyên Parastina Sivîl, deut. Zivile Verteidigungseinheiten) in der nahegelegenen Hauptstraße aus einem Taxi. Yakışır erschießt zwei Polizisten, verletzt an der Einmündung der Altstadtgasse einen weiteren und rennt mit Gürkan in Richtung der engen, mit Kopfsteinen gepflasterten und schwarzen Basaltmauern umgebenen Straße, in der Elçi, einige seiner Anwaltskollegen, Medienvertreter und insgesamt 26 Polizisten sich noch aufhalten. Wieder fallen Schüsse, diesmal aus den Waffen von drei Beamten. Kameraaufnahmen zeigen, dass Tahir Elçi noch aufrecht steht, als Yakışır seine Waffe in Richtung der Polizisten schleudert. Wenige Sekunden zuvor versucht er noch, während dem Laufen sein Magazin zu laden, erwischt nur sein Mobiltelefon. Gürkan gibt keinen Schuss ab, da er sein Patronenmagazin im Taxi fallen ließ.

Als beide am Ende der Altstadtgasse aus dem Blickfeld verschwinden, liegt Tahir Elçi am Boden. Er wurde mit einem einzigen Schuss ins Genick erschossen.

Regierung: Es war die PKK

Der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu machte nur wenige Tage nach dem Vorfall die PKK für den Mord an Tahir Elçi verantwortlich. Die Rechtsanwaltskammer von Amed hatte inzwischen eine Untersuchungskommission gegründet und forderte von der Staatsanwaltschaft die Herausgabe der Videoaufnahmen des Todeszeitpunktes. Doch wie es der Zufall wollte: ausgerechnet die Aufnahme der Erschießung fehlte.

Erst rund vier Monate, nachdem Elçi erschossen wurde, erstellte die Staatsanwaltschaft ein Expertengutachten. Darin heißt es, der Tod des Anwalts könne medizinisch und physisch nicht aufgeklärt werden, da man nicht genau wisse, in welcher Position sich Elçis Kopf und Körper nach dem Sturz auf dem Boden befunden haben. Elçi könne demnach aus jeder Position erschossen worden sein. Auch die Patronenhülse der Kugel, die in Elçis Körper eingedrungen war, wurde nicht gefunden.

3D-Konstruktion vom Geschehen

Weil die Beweisaufnahme in Diyarbakır und das Expertengutachten unzureichend sind, wandte sich die Rechtsanwaltskammer Amed an das Kollektiv „Forensic Architecture“. Das Recherche-Team aus IT-Experten, Architekten, Journalisten und Fotografen der Londoner Goldsmith Universität rekonstruiert im Auftrag von zivilen Opfern, NGOs und unabhängigen Vereinen Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit 3-D-Modellen und hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Menschenrechtsverletzungen aufgedeckt. Unter anderem befasste sich die Recherchegruppe mit Untersuchungen zu dem Mord an Halit Yozgat (NSU-Komplex), dem syrischen Foltergefängnis Saydnaya und zum Bootsunglück vor Tripolis im Jahr 2011.

3-D-Rekonstruktion: Drei Polizisten feuerten Schüsse ab

Im Mordfall Tahir Elçi sollte das Kollektiv durch eine Synchronisierung von Satellitenbildern des Tatorts, Bauplänen der Straße, drei Videos von Journalisten, die Elçis Rede verfolgten, und einem Band der Polizei eine dreidimensionale Darstellung der Vorgänge erstellen und ein Gutachten darüber liefern, wie die Ereignisse sich tatsächlich abgespielt haben. Bild für Bild, Schuss für Schuss hat das Kollektiv das Material seziert – inklusive akustischer und räumlicher Analysen der Bewegungen von Elçi, Journalisten, Polizisten und Waffen am Tatort. Ihre Erkenntnisse lassen es so gut wie unmöglich erscheinen, dass einer der beiden YPS-Mitglieder auf Elçi geschossen hat. Das in 3D-Format umgewandelte Video weist nach, dass nur drei Personen in die Richtung, in der Tahir Elçi stand, Schüsse abgefeuert haben: und zwar drei der insgesamt 26 in der Altstadtgasse von Sûr positionierten Polizisten.

Die Rechtsanwaltskammer Amed hatte die Rekonstruktion von „Forensic Architecture“ zusammen mit dem Gutachten bereits im Dezember 2018 als Expertenbericht der Generalstaatsanwaltschaft von Diyarbakır übergeben. Dennoch galten die drei Tatverdächtigen bis zuletzt lediglich als Zeugen. Bei den Ermittlungen gaben sie an, nicht auf Tahir Elçi geschossen zu haben. Auch hätten sie nicht gesehen, wer von ihnen den tödlichen Schuss abgab.

Mahsun Gürkan lebt inzwischen nicht mehr. Etwa vier Monate nach dem Tod von Tahir Elçi starb er im Widerstand von Sûr. Uğur Yakışır erreichte 2016 die Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan, wo er sich der Guerilla anschloss. Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft Diyarbakir Anklage gegen beide erhoben und fordert jeweils dreimal lebenslänglich plus weiteren 45 Jahren Haftstrafe wegen „Mord an Tahir Elçi“, „Mord an zwei Polizeibeamten“ und dem „Zerstören der Einheit und Integrität des Staates“.

Wer war Tahir Elçi? 

Tahir Elçi stammte aus Cizîr (Cizre) in Şirnex. Er gehörte zu den Gründern der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei (TİHV) und war sowohl beim Menschenrechtsverein IHD als auch innerhalb von Amnesty International (ai) aktiv. Nicht nur im Inland hat Tahir Elçi Verfahren für Opfer von Menschenrechtsverletzungen geführt, sondern viele von ihnen auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vertreten. Er selbst war von Beginn seiner anwaltlichen Tätigkeit an staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Wenige Wochen vor seiner Ermordung übte er Kritik an der Rolle der Regierung bei der Niederschlagung von friedlichen Protesten. Elçi sagte: „Die PKK ist keine terroristische Gruppierung. Auch wenn manche ihrer Aktionen vielleicht so genannt werden können, ist sie doch eine bewaffnete politische Bewegung mit erheblicher Unterstützung“. Dies führte zu einer Welle von Lynchaufrufen und Todesdrohungen gegen ihn. Er wurde festgenommen und in der Folge wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ angeklagt.

Zwei Tage nach Tahir Elçis Tod stellte die HDP im türkischen Parlament einen von der CHP unterstützten Antrag auf Einrichtung einer Untersuchungskommission zum Mord an dem Anwalt. Der Antrag wurde von der AKP und ihrem ultranationalistischen Koalitionspartner MHP abgelehnt und fand keine Mehrheit. Nach Bekanntwerden von Elçis Tod kam es in vielen Städten Nordkurdistans und der Türkei zu Demonstrationen. In Istanbul riefen die Teilnehmer*innen: „Ihr könnt uns nicht alle töten“, daraufhin wurde die Demonstration von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Keine 48 Stunden später nahmen mehr als 150.000 Menschen an Tahir Elçis Beerdigung teil.