Der Mord an dem kurdischen Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi, der im November 2015 während einer Pressekonferenz in Amed (Diyarbakir) erschossen wurde, ist bis heute nicht geklärt. Die türkische Regierung macht die PKK für das Attentat verantwortlich. Die Recherchegruppe „Forensic Architecture“ von der Goldsmiths-Universität in London kommt nun zu einem anderen Ergebnis. Durch eine 3-D-Rekonstruktion hat die Recherchegruppe zwei neue Verdächtige im Fall des ermordeten Anwalts ausfindig gemacht. Der tödliche Schuss sei demnach nicht von einem Angehörigen der Arbeiterpartei Kurdistans abgefeuert worden, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Polizisten.
Zivilpolizisten schießen auf fliehende Männer - Elçi stirbt
Der bekannte kurdische Menschenrechtsanwalt- und aktivist Tahir Elçi, der bis zu seinem gewaltsamen Tod Vorsitzender der Anwaltskammer von Amed war, starb am 28. November 2015 im historischen Altstadtviertel Sûr. Mit einer Gruppe von Anwälten hatte er dort dazu aufgerufen, sich gegen Krieg, bewaffnete Operationen und gegen die Zerstörung des historischen Erbes und Reichtums der Stadt einzusetzen. „Wir wollen in diesem Gebiet, das Heimat und Wiege so vieler Zivilisationen war, keine Gewalt, keinen Krieg, keine Zerstörung und keine bewaffneten Operationen“, sagte Elçi am Tag seines Todes. Für sein Pressestatement hatte er das „Vierbeinige Minarett“ gewählt, ein historisches Bauwerk, das während der türkischen Militärblockade in Sûr beschädigt worden war. Noch während Elçi sprach, fielen in der Nähe der Altstadtgasse mehrere Schüsse. Dort eröffneten mutmaßliche PKK-Mitglieder das Feuer auf zwei Polizisten, die später starben. Die Täter rannten in die Gasse, in der Elçi und die Pressevertreter standen. Deren Aufnahmen zeigten, wie Zivilpolizisten auf die fliehenden Männer schießen. Zum Ende der Schießerei war nur Elçi tot, ihn traf ein Kopfschuss von hinten.
Recherche beauftragt von Rechtsanwaltskammer Amed
Für die Recherche, deren Ergebnisse die Rechtsanwaltskammer am Freitag in Amed vorstellte, hat „Forensic Architecture“ Satellitenbilder des Tatorts, Baupläne der Straße, drei Videos von Journalisten, die Elçis Rede verfolgten, und ein Band der Polizei synchronisiert. Bild für Bild, Schuss für Schuss hat die Recherchegruppe das Material seziert – inklusive akustischer und räumlicher Analysen der Bewegungen von Elçi, Journalisten, Polizisten und Waffen am Tatort. Die 3-D-Rekonstruktion des Geschehens weist laut „Forensic Architecture“ nach, dass die fliehenden PKK-Mitglieder Tahir Elçi nicht erschossen haben können. Die Polizisten, die im Video C und D genannt werden, sollten als Verdächtige verhört werden, lautet ein Ergebnis.
Während der gestrigen Pressekonferenz sagte Cihan Aydın, jetziger Vorsitzender der Anwaltskammer Amed, dass die Ergebnisse der Recherche im Dezember der Staatsanwaltschaft vorgelegt wurden. Die habe bisher allerdings nichts unternommen.
„Forensic Architecture”
Die Kunst- und Rechercheagentur „Forensic Architecture” rekonstruiert Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit 3-D-Modellen. Sie arbeitet ausschließlich für zivile Opfer, NGOs und unabhängige Vereine. Das Forscherteam aus IT-Experten, Architekten, Fotografen und Journalisten hat seit seiner Gründung vor acht Jahren eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen aufgedeckt. Unter anderem befasste sich „Forensic Architecture” mit Untersuchungen zu dem Mord an Halit Yozgat (NSU-Komplex), dem syrischen Foltergefängnis Saydnaya und zum Bootsunglück vor Tripolis 2011.
Wer war Tahir Elçi?
Tahir Elçi stammte aus Cizîr (Cizre) in Şirnex. Er gehörte zu den Gründern der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei (TİHV) und war sowohl beim Menschenrechtsverein IHD als auch innerhalb von Amnesty International (ai) aktiv. Nicht nur im Inland hat Tahir Elçi Verfahren für Opfer von Menschenrechtsverletzungen geführt, sondern viele von ihnen auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vertreten. Er selbst war von Beginn seiner anwaltlichen Tätigkeit an staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Wenige Wochen vor seiner Ermordung übte er Kritik an der Rolle der Regierung bei der Niederschlagung von friedlichen Protesten. Elçi sagte: „Die PKK ist keine terroristische Gruppierung. Auch wenn manche ihrer Aktionen vielleicht so genannt werden können, ist sie doch eine bewaffnete politische Bewegung mit erheblicher Unterstützung“. Dies führte zu einer Welle von Lynchaufrufen und Todesdrohungen gegen ihn. Er wurde festgenommen und in der Folge wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ angeklagt.
Zwei Tage nach Tahir Elçis Tod stellte die HDP im türkischen Parlament einen von der CHP unterstützten Antrag auf Einrichtung einer Untersuchungskommission zum Mord an dem Anwalt. Der Antrag wurde von der Regierungspartei AKP und der ultranationalistischen MHP abgelehnt und fand keine Mehrheit. Nach Bekanntwerden von Elçis Tod kam es in vielen Städten Nordkurdistans und der Türkei zu Demonstrationen. In Istanbul riefen die Teilnehmer*innen: „Ihr könnt uns nicht alle töten“, daraufhin wurde die Demonstration von der Polizei unter Anwendung von massiver Gewalt aufgelöst. Keine 48 Stunden später nahmen mehr als 150.000 Menschen an seiner Beerdigung teil.