IHD veröffentlicht erste Bilanz nach Zwangsverwaltung

Der Menschenrechtsverein IHD hat eine erste Bilanz nach der Absetzung dreier Bürgermeister kurdischer Großstädte erstellt.

Der in der Türkei ansässige Menschenrechtsverein IHD (İnsan Hakları Derneği) hat sich zur Usurpation der von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) gewonnenen Kommunalverwaltungen durch die AKP-Regierung geäußert und eine Bilanz über die Rechtsverstöße staatlicher Behörden im Zuge der Proteste dagegen veröffentlicht. Anfang vergangener Woche sind in den kurdischen Großstädten Amed (Diyarbakir), Wan und Mêrdîn (Mardin) die Bürgermeister*innen vom türkischen Innenministerium abgesetzt und durch Treuhänder ersetzt worden. Die Entlassungen begründete die Regierung damit, dass die Politiker*innen Kontakt zu Terrororganisationen gehabt hätten. Es ist bereits das zweite Mal, dass demokratisch gewählte Kommunalverwaltungen unter Zwangsverwaltung gestellt werden. Im Herbst 2016 waren ungefähr hundert kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister abgesetzt und inhaftiert worden. Erst bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 zogen wieder gewählte Vertreter in die Rathäuser kurdischer Städte und Gemeinden ein.

In der am Mittwoch von der IHD-Zweigstelle Amed vorgestellten Bilanz verweist der Menschenrechtsverein einleitend darauf, dass die Absetzung von Adnan Selçuk Mızraklı, dem Bürgermeister von Amed, bereits am 1. April initiiert wurde – nur einen Tag nach den Kommunalwahlen. Das entsprechende Ersuchen wurde vom Provinzgouverneur gestellt. „Damit haben sich der Innenminister und der Gouverneur über die Justiz hinweggesetzt und gegen die Verfassung verstoßen. Millionen Wähler wurden ihres Wahlrechts beraubt. Es wurden Straftaten begangenen“, beklagt der IHD.

Dass die Bürgermeister aus ihrem Amt enthoben wurden, war erst nach Medienberichten bekannt geworden. „Unmittelbar danach wurden die Rathäuser sowie umliegende Straßen von einem massiven Polizeiaufgebot umstellt. Die Eingänge der Verwaltungsgebäude wurden aufgebrochen und betreten. Das Rathaus der Stadtverwaltung von Diyarbakir wurde am 19. August 2019 von türkischen Sicherheitskräften mit Barrieren abgeriegelt. Die Bürger können das Gebäude, das einem Gefängnis gleicht, nur unter intensiven Sicherheitsmaßnahmen betreten. Mit der Absetzung des Bürgermeisters und der Auflösung des Stadtrats ist der Wille des Volkes an die Polizei übertragen worden“, heißt es weiter.

Gleichlaufend mit der Usurpation der Kommunalverwaltungen ist es landesweit zu Razzien bei HDP-Stadtratsmitgliedern und Lokalpolitiker*innen gekommen. Der IHD berichtet von eingeschlagenen Türen und gewaltsamen Festnahmen von gesuchten Aktivisten: „Auch Personen, die zum Zeitpunkt der Razzien nicht angetroffen wurden, haben ihre Wohnungen verwüstet vorgefunden. Vielen Betroffenen wurden Geld und Wertgegenstände entwendet. Am 19. August wurden in Diyarbakir, Mardin, Van und anderen Städten 420 Personen festgenommen. Am 23. August belief sich die Zahl der in Gewahrsam genommenen Personen auf mehr als 1000. Nach unseren Recherchen wurden zudem am 18. August in Amed 138 Personen bei Razzien festgenommen. 32 weitere wurden am selben Tag bei Protesten oder Demonstrationen festgenommen.“

Die Betroffenen gaben gegenüber dem IHD an, während dem Polizeigewahrsam in der Antiterrorzentrale der Bezirkspolizeidirektion in Amed erniedrigender Behandlung ausgesetzt worden zu sein. Die Polizei habe unter anderem versucht, Agenten anzuwerben. Außerdem wurden offenbar illegale Verhörmethoden angewendet. „Ältere Menschen und kranken Personen wurden Medikamente und Gesundheitsgeräte verwehrt, WC-Besuche die meiste Zeit über nicht gestattet, Appelle, die Lüftungsanlage anzuschalten, nicht erhört. Zudem waren die Zellen überbelegt“, berichtet der IHD und weist auf einen Hungerstreik von festgenommenen HDP-Aktivisten als Reaktion auf die psychische und physische Gewalt durch das Gefängnispersonal.

Weiter heißt es in der Bilanz: „Die bei den Verhören gestellten Fragen verdeutlichen, dass die Festnahmen völlig willkürlich erfolgten. Viele Betroffene sollten sich ausschließlich darüber äußern, ob sie an Protesten oder Demonstrationen teilnehmen. Auf Proteste gegen die Entscheidung des Innenministeriums, das Rathaus in Diyarbakir unter Zwangsverwaltung zu setzen, reagieren Sicherheitskräfte gewalttätig und unverhältnismäßig. Hunderte Demonstranten wurden bereits von Polizeibeamten unter Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Gasgranaten gefoltert und misshandelt. Parlamentarier, Politiker, Anwälte, Jugendliche und Kinder werden ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung und ihrem Demonstrationsrecht beraubt. Eigene und internationale Gesetze sowie einschlägige Konventionen werden mit Füßen getreten. Dieser Zustand hält seit dem 19. August an.“

Einige der Polizeiangriffe richten sich direkt auf das Recht auf Leben, betont der Menschenrechtsverein und erinnert in diesem Zusammenhang an einen Übergriff am zweiten Tag der Proteste auf die HDP-Abgeordneten Feleknas Uca, Ayşe Acar Başaran, Semra Güzel und Gülistan Koçyiğit, die am 20. August mit Schlagstöcken und Tritten verletzt wurden. Başaran musste danach sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden. Am selben Tag wurde ein weiterer Protest vor dem Rathaus von Amed auf ähnliche Weise angegriffen. In der Presse veröffentlichte Bilder zeigten von Polizisten zu Boden getretene HDP-Abgeordnete, auf die eingeschlagen wurde. In der Bilanz macht der IHD auch auf die Festnahme von fünf kurdischen Journalist*innen aufmerksam. Die beiden Korrespondenten der Nachrichtenagentur Mezopotamya MA, Ahmet Kanbal und Mehmet Şah Oruç, die JinNews-Korrespondentin Rojda Aydın sowie die Journalistinnen Nurcan Yalçın und Halime Parlak waren letzte Woche Dienstag unter Anwendung von massiver Gewalt festgenommen und erst am Montag wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Die Festnahmen der Journalist*innen sollten dazu dienen, Öffentlichkeit über die Proteste zu verhindern. Außerdem wurde gegen das Grundrecht der Informationsfreiheit verstoßen, kritisiert der IHD.

Der Menschenrechtsverein fordert in seinem Bericht die sofortige Aufhebung der Zwangsverwaltung und verlangt, dass die abgesetzten Bürgermeister auf ihre Posten zurückkehren. Außerdem sollen die gewaltsamen Übergriffe auf Proteste eingestellt sowie Aktionsverbote zurückgenommen werden. Gegen Polizisten, die Gewalt gegenüber Demonstranten anwenden, müssten zudem Ermittlungsverfahren eingeleitet werden.