Der türkische Staat versucht mit perfiden Methoden, politisch aktive Menschen als Spitzel zu rekrutieren. Besonders betroffen sind Kurdinnen und Kurden. In Amed (tr. Diyarbakir) sind in den letzten Monaten weitere Anwerbeversuche bekannt geworden. So wurde Meliha Cömert, Bezirksverbandsvorsitzede der DEM-Partei in Sûr, im Oktober von Polizisten verfolgt und bedrängt, sich als Informantin zu betätigen. Im November machten Studierende der Dicle-Universität im Menschenrechtsverein IHD brutale Methoden der türkischen Polizei zur Spitzelanwerbung öffentlich. Auch Studierende der Munzur-Universität in Dersim berichteten im Dezember von derartigen Versuchen. In Amed wurde zuletzt der Fall des Gewerkschafters Erhan Gümüş bekannt. Der ESM-Sekretär wurde seit August systematisch bedrängt, am 18. Dezember wurde er auf der Straße von Personen angehalten, die sich als Geheimdienstler ausgaben und ihn bedrohten, weil er sich der Rekrutierung als Informant verweigerte.
Der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD in Amed, Ercan Yılmaz, erklärte gegenüber ANF zu dem zunehmenden Druck und den Spitzelanwerbeversuchen der Behörden, dass diese seit dem einseitigen Abbruch der Verhandlungen über eine friedliche Lösung der kurdischen Frage mit Abdullah Öcalan durch den türkischen Staat im Jahr 2015 zugenommen haben: „Vor allem nach 2015, als der Konfliktprozess wieder begann und der Druck auf die Gesellschaft zunahm, griff die Türkei immer häufiger zu antidemokratischen Praktiken. Wir haben unser Archiv von 2018 bis heute durchsucht und dabei festgestellt, dass sich 81 Bürgerinnen und Bürger mit dem Vorwurf der Spitzelanwerbung durch die Strafverfolgungsbehörden an uns gewandt haben. Wir haben uns das Profil der Betroffenen angesehen und sind auf sehr unterschiedliche Profile gestoßen. Es gibt öffentlich Beschäftigte, Angehörige von Gefangenen, Gewerkschaftsmitglieder und Studierende, die diesem Druck ausgesetzt sind. Wir denken, dass die Strafverfolgungsbehörden zu dieser Methode greifen, um Menschen, die für ihre Rechte kämpfen und gewerkschaftlich tätig sind, von diesen Aktivitäten abzuhalten. Laut unserem Archiv ist der erste Unterstützungsantrag zu diesem Thema im Jahr 2006 bei uns eingegangen."
Danach habe die Agentenanwerbung systematisch zugenommen, so Ercan Yılmaz: „In manchen Zeiträumen haben wir keine Anträge zu diesen Vorwürfen erhalten, das gilt vor allem für die Zeit des Verhandlungs- und Lösungsprozesses zwischen 2013 und 2015. Wir sind der Meinung, dass die aktuelle Situation in der Türkei ein Beispiel für die Arbeit ist, die im Rahmen des vermeintlichen Antiterrorkampfes zur Lösung der kurdischen Frage geleistet wird. Wenn Polizeibeamte, Angehörige der Sicherheitskräfte und Personen, die sich als Geheimdienstmitarbeiter ausgeben, auf diese Weise auf die Bürgerinnen und Bürger zugehen und ihnen Vorschläge oder Drohungen machen, ist das, gelinde gesagt, ein Vergehen, das ein Amtsmissbrauch darstellt. Gleichzeitig gibt es in den Anträgen Fälle von psychologischer Folter. Ständiges Stalking, Belästigungen am Telefon, das Aufsuchen des Arbeitsplatzes und die Unterbreitung von Vorschlägen und Drohungen in dieser Angelegenheit haben sich zu psychologischer Folter entwickelt. Viele Anträge beinhalten Angaben zu Drohungen und Beleidigungen. Einige der Betroffenen wollen damit nicht an die Öffentlichkeit gehen. Wir sind an die Forderungen der Antragstellenden gebunden. Die Mehrheit fordert von uns Unterstützung in dieser Frage. Sie bitten uns, Initiativen zu ergreifen, um die Bedrohungen und den Druck, dem sie ausgesetzt sind, zu beenden. Auf der Grundlage dieser Anträge stellen wir Anfragen an das Innenministerium, die Sicherheitsdirektion Diyarbakır und die parlamentarische Menschenrechtskommission und fordern eine Untersuchung der Vorfälle. In vielen Anträgen sind sehr detaillierte Informationen enthalten, Handynummern, Autokennzeichen und Personenbeschreibungen.“
Yılmaz wies darauf hin, dass in letzter Zeit sehr ernstzunehmende Fälle der gewaltsamen Agentenanwerbung eingegangen seien: „Trotzdem erhalten wir vom Ministerium keine Rückmeldungen zu den bisher gestellten Anfragen. Das bestärkt uns in unserer Annahme, dass diese Personen tatsächlich Beamte sind. Andernfalls würde sich der Staat mit diesem Problem befassen und diesen Vorwurf ausräumen. Das Fehlen jeglicher Erklärung, jeglicher Arbeit in dieser Angelegenheit und das Schweigen zu diesem Thema bestärken uns in dem Verdacht, dass die Anschuldigungen wahr sind und dass die Personen diese Verbrechen unter Ausnutzung ihres öffentlichen Amtes begangen haben. Wir möchten, dass die Bürgerinnen und Bürger sich wegen aller Rechtsverletzungen, die sie erlebt haben, an den Menschenrechtsverein wenden. Der IHD verfügt über fast 40 Jahre Erfahrung. Solche Verletzungen können nur durch den Kampf gegen diejenigen beendet werden, die diese Verletzungen verursachen. Wir bitten unsere Bürgerinnen und Bürger, sich in dieser Angelegenheit und bei allen anderen Rechtsverletzungen, die sie erleben, an Menschenrechtsorganisationen, Anwaltskammern und Staatsanwaltschaften zu wenden. Denn all diese Praktiken stehen im Widerspruch zur geltenden Verfassung, die wir kritisieren, die wir für unvollständig halten und die wir in eine zivile Struktur überführen wollen. Diese Vorgehensweisen berauben, vereinfacht ausgedrückt, die Person ihrer Freiheit, begehen den Straftatbestand des Amtsmissbrauchs und der Bedrohung. Wir sehen in den Anträgen der Bürgerinnen und Bürger einen wichtigen Schritt, um dieses Regime zur Rechenschaft zu ziehen.“