Seit 221 Tagen findet in türkischen Gefängnissen ein Hungerstreik gegen die Isolation von Abdullah Öcalan als Schlüsselfigur für eine politische Lösung der kurdischen Frage und gegen die Haftbedingungen politischer Gefangener statt. Der unbefristete Hungerstreik wird im gruppenweisen Wechsel für jeweils fünf Tage durchgeführt, viele der Teilnehmenden verweigern jedoch zum wiederholten Mal für die Durchsetzung ihrer politischen Forderungen die Nahrungsaufnahme und sind entsprechend geschwächt.
Der Mediziner Dr. Murat Ekmez ist Vorstandsmitglied der Istanbuler Ärztekammer und beobachtet den Hungerstreik mit Besorgnis. Gegenüber ANF erinnert er daran, dass der Hungerstreik seit geraumer Zeit andauert, ein öffentliches Echo in der Türkei und im Ausland jedoch nicht im ausreichenden Ausmaß erfolgt. Gefängnisse seien „unsichtbaren Orte“ und die politischen Häftlinge versuchten aus diesem Grund immer wieder, sich mit Hungerstreiks Gehör zu verschaffen.
Der Istanbuler Arzt Murat Ekmez: Isolation ist ein Angriff auf den Willen von Menschen
Der aktuelle Hungerstreik ist laut Ekmez aufgrund der Pandemiebedingungen zusätzlich erschwert. Der Arzt kritisiert die Politik, die Anwaltskammern und alle weiteren involvierten Institutionen für ihre mangelnde Aufmerksamkeit. Das verschärfe die Sorge der zivilgesellschaftlichen Ausschüsse, die in der Türkei und Kurdistan zwecks Beobachtung des Hungerstreiks gegründet worden sind. Es gehe jetzt darum, bleibende Schäden bei den Hungerstreikenden zu verhindern. Die Ausschüsse versuchten Druck auf das Justizministerium und den Staat auszuüben, weil Isolation eine Foltermethode ist, die nicht gegen Menschen eingesetzt werden darf, so Murat Ekmez. Dafür ist Kontakt mit politischen Parteien und den konsularischen Vertretungen anderer Staaten aufgenommen worden.
„Durch jahrzehntelange Inhaftierung gesundheitlich beeinträchtigt“
Ekmez weist darauf hin, dass die heutigen Hungerstreikenden bereits früher für die gleiche Forderung gehungert haben. Viele von ihnen sind seit Jahrzehnten im Gefängnis und daher gesundheitlich angeschlagen. „Die Gefangenen sind anderthalb Jahre nach ihrem letzten Hungerstreik erneut in den Hungerstreik getreten, bevor sie sich körperlich erholen konnten. Damals haben ungefähr 3000 Gefangene durchgehend an der Aktion teilgenommen. Diese Gefangenen sind jetzt erneut im Hungerstreik. Sie erleben eine sehr zermürbende Zeit. Ein großer Teil ist seit langer Zeit im Gefängnis und leidet ohnehin an unzureichender Ernährung. Sie werden unter schlechten Bedingungen festgehalten und haben nur beschränkten Zugang zu frischer Luft und Sonnenlicht. Dazu ist die Pandemie gekommen, wodurch sie noch stärker als zuvor isoliert sind.
Wir sind besorgt um das Leben dieser Gefangenen. Viele Menschen sind während der Pandemie im Gefängnis gestorben, weil sie keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung hatten. Leider muss ich feststellen, dass das Gesundheitsministerium dazu keine Informationen veröffentlicht. Aus diesem Grund ist ein gemeinsamer Kampf gegen die Foltermethode der Isolation notwendig, um Nebelvorhang in den Gefängnissen zu lüften“, so Murat Ekmez.
„Isolation ist ein Angriff auf den Willen eines Individuums“
Die Hungerstreikenden erklären seit Anfang an, dass die Isolation sich von den Gefängnissen aus auf die gesamte Gesellschaft verbreitet und die Menschheit bedroht. Das beobachtet auch Ekmez. Da die Gefangenen am schärfsten davon betroffen sind, müsse die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Haftanstalten gelenkt werden. Auf Imrali herrsche ein Sonderstatut, betont er: „Die Isolation ist eindeutig ein Angriff auf den Willen eines Individuums. Es handelt sich um Folter. Auf Imrali sehen wir die schwerste Form dieser Folter, aber auch in anderen Vollzugsanstalten wird diese Form der Folter gegen Gefangene angewandt, insbesondere auf solche, die zu einer erschwerten lebenslänglichen Strafe verurteilt sind. Mit der Pandemie sind viele weitere Gefangene isoliert worden.“
Dass Menschen immer wieder gezwungen seien, in einen Hungerstreik zu treten, zeige auf, dass die Isolation zu einem großen Druckmittel geworden ist. Ekmez weist darauf hin, dass die Gefangenen trotz ihrer schlechten Versorgungslage nicht für Wasser und Brot kämpfen, sondern gegen die Isolation. „Für Menschen ist Freiheit so wichtig wie Wasser und Luft“, meint der Arzt und fordert erneut dazu auf, der Situation in den Gefängnissen die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen.