Silivri: 32 Personen in Siebenpersonenzelle

Der aus dem L-Typ-Gefängnis Nr. 5 in Silivri entlassene politische Gefangene Ismail Aktaş berichtet, dass 32 Gefangenen trotz Pandemie und Hungerstreik in einer Siebenpersonenzelle untergebracht sind.

Obwohl die türkische Regierung vor allem in den Bau von Gefängnissen investiert, reichen angesichts der politischen Massenverhaftungen die Haftplätze nicht aus. Trotz der Pandemie sind die Zellen massiv überbelegt. Der neu entlassene politische Gefangene Ismail Aktaş berichtet, dass die Gefangenen im L-Typ-Gefängnis Nr.5 von Silivri in 32er-Gruppen in Siebenpersonenzellen untergebracht sind.

Ismail Aktaş war als Ko-Vorsitzender des Kreisverbands der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) wegen „Verstoß gegen das Versammlungsgesetz“ im August 2018 inhaftiert worden. Nach seiner Inhaftierung wurde die Anklage in „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ umgewandelt und er blieb drei Jahre in Haft. Das Oberste Gericht verwarf schließlich das Urteil gegen Aktaş und er wurde freigelassen. Im ANF-Gespräch berichtet er über die Situation im Gefängnis Nr. 5 von Silivri.

Mangelernährung und Überbelegung

Im Zellenblock F-4, in dem er untergebracht war, herrscht extreme Überbelegung. In Siebenpersonenzellen befinden sich real 32 Personen. Die Mehrheit der Insassen muss also auf dem Boden, bzw. in Schichten schlafen. Die Qualität der Nahrungsmittel ist ebenso wie die Menge viel zu niedrig. 32 Personen bekommen zehn Portionen Essen. Diese Politik steht in eklatantem Widerspruch zur vom Regime angesichts der Pandemie ausgegebenen Parole, das Immunsystem „stark“ zu halten.

Hungerstreikende Gefangene in Gefahr

Aktaş weist darauf hin, dass die Situation insbesondere für die hungerstreikenden Gefangenen bedrohlich ist, da deren Immunsystem geschwächt sei. Es findet in türkischen Gefängnissen im Moment ein in Fünftagesschichten rotierender Massenhungerstreik gegen die Isolation Abdullah Öcalans und die lebensbedrohlichen Haftbedingungen statt. Viele der Gefangenen, die sich jetzt im Hungerstreik befinden, hatten sich auch an dem von Leyla Güven angeführten 200-tägigen Hungerstreik 2018-2019 beteiligt und leiden immer noch an den physischen Folgen. Diese Gefangenen seien daher noch gefährdeter. Aktaş berichtet, es gebe auch keinerlei Kontrolle der gesundheitlichen Situation der Gefangenen: „Sie kommen einfach nur und schauen, ob man im Hungerstreik ist oder nicht, und leiten dementsprechend disziplinarische Ermittlungen ein.“

Auf Infektion wird mit Strafe reagiert

Aktaş berichtet, dass im Zellenblock F-7 aufgrund schlechter Nahrung, mangelnder Vorkehrungen und Überfüllung Corona ausgebrochen sei. Er erzählt: „Bevor ich Mitte Mai freigelassen wurde, wurden neun politische Gefangene in dieser Station positiv getestet und die ganze Station unter Quarantäne gestellt. In einem solchen Umfeld, in dem der Hungerstreik andauert, werden die Menschen durch die Bedingungen de facto zum Tode verurteilt.“ Die positiv getesteten Gefangenen wurden auf abgetrennte Stationen gebracht. Dort konnten sie nicht einmal ihr Recht auf Telefonate nutzen, jegliche Form der Kommunikation nach draußen wurde verboten. So wurde selbst die Infektion zum Anlass für eine Strafe gemacht. Daher verweigerten immer mehr Gefangene die Testung.

Kleine Plastikflasche mit Reinigungsmittel für große Zelle

Aktaş berichtet, dass auch die hygienischen Bedingungen ein massives Problem darstellen. Das Wasser sei ständig unterbrochen und wenn es mal warmes Wasser gäbe, dann stinke es und habe eine braune Färbung. Der ehemalige Gefangene klagt an: „Das Justizministerium hatte angekündigt, dass die Gefängnisse ausreichend mit Reinigungsmitteln versorgt werden würden. Aber das geschah nicht. Die Gefängnisverwaltung hat nur ganz wenig Material ausgegeben, und das auch nur, um sagen zu können, sie hätten etwas getan. In unserer Zelle befinden sich 32 Personen und wir bekamen nur eine kleine PET-Flasche mit Reinigungsmittel. Eine weitere kleine PET-Flasche mit Handwaschmittel wurde ausgegeben. Das ist kein Witz. Reinigungsmittel für den Boden wurde vor zwei Monaten verboten. Man muss es mit dem eigenen Geld kaufen. Aber auch dann gibt es das nur sehr begrenzt. Sie sagen, sie hätten so etwas nicht in der Kantine. Sie zwingen einen, teure Marken zu kaufen, die dann benutzt werden dürfen.“

Ein Arzt für 3.000 Gefangene

Die Bedingungen, die bereits vor der Pandemie schlecht waren, verschlimmerten sich mit der Pandemie extrem. Das gilt vor allem auch für die Einschränkung des Rechts auf Gesundheitsversorgung. Aktaş selbst hatte vor seiner Verhaftung wegen eines Unfalls Metallimplantate in seinen Arm bekommen. Aufgrund fehlender Behandlung habe er nun 45 Prozent seiner Mobilität im Arm verloren. Viele ältere Gefangene wie der 75-jährige Sabri Yavuz werden oft gar nicht erst zur Krankenstation gebracht, weil es angeblich keine Ärzte gäbe. Und wenn sie es doch einmal auf die Station schaffen, werden sie mit einer Tablette oder ähnlichem sofort zurückgeschickt. Im Gefängnis Silivri betreut ein Arzt 3.000 Gefangene. Aktaş sagt: „Egal welche Beschwerden man hat, der Arzt gibt einem ein Standardmedikament und schickt einen wieder in die Zelle zurück, ohne die Nebenwirkungen zu berücksichtigen.“

Keine Zeitungen oder Briefe

Briefe, die Gefangene schreiben, wurden nicht weitergeleitet und Zeitungen wie Yeni Yaşam oder Evrensel den Gefangenen nicht ausgehändigt. Aktaş sagt, es herrsche ein Sonderrecht gegen die politischen Gefangenen: „Insbesondere die politischen Gefangenen werden ihrem Schicksal überlassen. Während Strafgefangene gemeinsamen Hofgang haben, ist dies den politischen Gefangenen verboten. Sie machen klar, dass man das als Oppositioneller nicht verdient. Sie normalisieren das Unrecht. Ich war drei Jahre dort und die politischen Gefangenen konnten von keinem einzigen Recht Gebrauch machen.

So gibt es eigentlich ein Recht auf Kultur und Kunst. Aber davon kann man keinen Gebrauch machen. Man kann nicht in die Bibliothek gehen. Bücher kommen nur in begrenztem Umfang. Ich bin eigentlich Geschichtslehrer, durfte das Amt aber nicht antreten. Ich habe so viele Anträge geschrieben, um die Bibliothek aufzusuchen. Wir haben ein kleines Fenster auf der Station, und wir schauen auf den Sportbereich der anderen Insassen. Politische Gefangene werden nicht auf den Hof gelassen. Es ist also ein Zustand völliger Isolation. Covid-19 ist offiziell zu einem Vorwand für sie geworden, um den bestehenden Druck noch weiter zu erhöhen."

Denken ist ein Verbrechen geworden“

Aktaş weist auf die Vollzugsreform, die 2020 unter dem Deckmantel Pandemie durchs Parlament gedrückt wurde hin und sagt, dieses Justizpaket, mit dem Mafiabosse, Vergewaltiger und Betrüger freikamen, verurteile politische Gefangene – Kurd:innen, Sozialist:innen und Oppositionelle – zum Tod im Gefängnis. Er spielt damit auf die Tatsache an, dass die Justizreform und die Amnestie für zehntausende Gefangene explizit nicht für politische Gefangene galt. Stattdessen befinden sich Menschen, die einen kritischen Text geschrieben oder einen kritischen Tweet abgesetzt haben, unter lebensbedrohlichen Bedingungen in Haft. Er stellt fest: „Dieses Vollzugsreformpaket diente einzig und allein dazu, mehr Haftplätze für kurdische Gefangene freizugeben. Diebe kommen raus, aber zum Beispiel Journalist:innen nicht. Hier ist nicht Diebstahl, sondern Denken, Hinterfragen, Schreiben und Reden ein Verbrechen. Genau das ist die Botschaft dieser Vollzugsreform.“

Isoliert von den Familien

Die politischen Gefangenen haben seit 1,5 Jahren nicht ihre engsten Angehörigen, nicht einmal ihre Kinder sehen können. Aktaş klagt an, dass einerseits Besuchstermine unter dem Vorwand der Pandemie verhindert werden, aber andererseits in den Zellen 32 Personen auf 40 Quadratmetern festgehalten werden. Bei jeder Zählung betreten sechs bis sieben Wächter, die mit der Außenwelt in Kontakt stehen, die Zellen, und auch die Menschen im offenen Vollzug können ein und ausgehen. Unter den Gefangenen sind viele, die noch immer auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über ihr Urteil warten, sagt Aktaş und fährt fort: „Diese Menschen haben nichts gemacht, ihr einziges Verbrechen ist, dass sie Kurden sind. Es interessiert sie nicht einmal, ob du oppositionell bist, wenn sie dich verhaften, es reicht allein, Kurde zu sein.”

Alte und kranke Gefangene nach Hause schicken

Der ehemalige Gefangene beschreibt insbesondere die Situation der alten und kranken Gefangenen als dramatisch und fordert: „Diese Menschen müssen zumindest nach Hause gebracht und das Recht erhalten, bei ihren Familien zu sterben. Denn wenn diese Menschen im Gefängnis sterben, werden sie sterben, ohne die Hände ihrer Frauen oder ihrer Kinder halten zu können. Und wenn diese schlimmen Bedingungen anhalten, werden diese Menschen dort sterben. Was bedeutet es, einen 75-jährigen Mann im Gefängnis zu halten? Er hat keinen Mann getötet, er hat niemanden vergewaltigt, er hat niemandem das Eigentum gestohlen. Er träumte nur, er hoffte auf ein gutes Leben, und er versuchte, etwas dafür zu tun. Warum sollte er noch vier oder fünf Jahre im Gefängnis auf eine Entscheidung des Obersten Gerichts warten. Wenn er bis zum Urteil unter Hausarrest gestellt würde, wäre er zumindest bei seiner Familie.

Lange Inhaftierung weit verbreitet

Lange Inhaftierungen sind äußerst weit verbreitet. Mein Fall lag zwei Jahre beim Obersten Gerichtshof. Und ich war der Glücklichste der Gefangenen dort, weil ich im Vergleich kurz auf die Entscheidung warten musste. Mit einer sehr einfachen Korrektur könnte dies geändert werden. So könnten die Menschen wenigstens zuhause auf die Gerichtsentscheidung warten.

Das Gefängnis duldet nicht die geringste Hoffnung

Das Gefängnis ist keine Blumenwiese, es ist ein System, das nicht die winzigste Blume zwischen seinen Mauern dulden kann. Es gab einmal einen kleinen Riss in der Wand, und dort wuchs eine Blume. Als die Wärter dies bemerkten, rissen sie die Blume raus. Denn dieses Grün ist Hoffnung, die sie zerstören wollen. Die Menschen müssen die Stimme erheben, damit niemand mehr im Gefängnis stirbt. Wie soll es denn den Gefangenen in diesen winzigen überfüllten Zellen gehen, wenn die Menschen hier nach drei Tagen Ausgangssperre schon nach draußen rennen? Was sollen die Gefangenen tun?“