Um auf die Situation von kranken Gefangenen in der Türkei aufmerksam zu machen, veranstaltet die Gefängniskommission des Menschenrechtsvereins IHD seit über acht Jahren jeden Samstag in den türkischen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir eine „F-Sitzung“ - in Anlehnung an das türkische Gefängnissystem Typ-F. Auf den Mahnwachen wird das Schicksal einer oder eines Gefangenen behandelt, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie finden die Sit-ins seit Monaten allerdings nicht wie gewohnt auf der Straße statt, sondern in den Vereinsräumlichkeiten der Kommission.
In Istanbul erinnerten die Menschenrechtler*innen des IHD am Samstag im Rahmen ihres mittlerweile 434. Aktionstages an das Schicksal von Makbule Özbek. Die 72-jährige Friedensaktivistin ist am 26. Juni gemeinsam mit 22 weiteren Personen aufgrund eines Ermittlungsverfahrens gegen den Gesellschaftskongress (kurd. Kongreya Civaka Demokratîk - KCD, türk. Demokratik Toplum Kongresi - DTK) in Amed (türk. Diyarbakir) verhaftet worden. Seitdem befindet sie sich unter dem Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ unter Quarantänebedingungen in Einzelhaft in einem örtlichen Gefängnis.
Das Verfahren gegen den KCD gilt als „Zerschlagungsplan der basisdemokratischen Selbstorganisierung der Zivilgesellschaft“. Die Organisation fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Einrichtungen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Sie ist ein wichtiges Organ des Modells des Demokratischen Konföderalismus – der auf lokale Demokratie statt Zentralstaatlichkeit setzt. Der KCD versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der, gestützt auf Räte- und Basisdemokratie, Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet – ein Dorn im Auge der zentralistischen AKP-Regierung, es droht ein Verbotsverfahren.
Makbule Özbek kurz vor ihrer ersten Inhaftierung
Makbule Özbek ist chronisch herzkrank. Zudem leidet sie an Bluthochdruck, Diabetes und Nierenschwäche. Ihre Anwältin legte bereits Haftbeschwerde ein, weil Özbek aufgrund ihrer Erkrankungen durch die Pandemie in Lebensgefahr schwebe. Der Antrag wurde allerdings abgelehnt. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit vermeintlicher Fluchtgefahr der 72-Jährigen. Es ist nicht das erste Mal, dass Makbule Özbek im Gefängnis sitzt. Die Mutter von sechs Kindern, von denen zwei ihr Leben im kurdischen Befreiungskampf verloren haben, wurde 1998 das erste Mal inhaftiert – weil ihre Kinder bei der Guerilla waren. Nach zweieinhalb Jahren wurde sie zunächst aus der Untersuchungshaft entlassen, als 2010 schließlich das rechtskräftige Urteil gegen sie vorlag, musste sie weitere zweieinhalb Jahre der Gesamtstrafe in Höhe von 7,5 Jahren wegen angeblicher „PKK-Mitgliedschaft“ absitzen.
Im Jahr 2001 wurde in der Türkei die Initiative der Friedensmütter gegründet. Ihre Mitglieder setzen sich aus Müttern kurdischer Guerillakämpfer*innen und politischer Gefangener zusammen, manche von ihnen sind auch Mütter von Soldaten der türkischen Armee. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, mit allen ihren Möglichkeiten gegen das Fortdauern des Krieges und für eine politische Lösung zu kämpfen. Sie setzen sich nicht nur für Frieden ein, sie stehen exemplarisch für ein ständiges Engagement für den Dialog und die Demokratisierung der Türkei und Nordkurdistans. Sie spielten in verschiedenen Friedensprozessen eine Schlüsselrolle und machten durch ihre Beteiligung an den Hungerstreikaktivitäten für die Aufhebung der Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan im vergangen Jahr einen Durchbruch möglich. Makbule Özbek ist Mitbegründerin der Initiative.
„Dass diese Frau und Großmutter von sechs Enkelkindern trotz Vorerkrankungen im Gefängnis ist, kann nicht akzeptiert werden“, sagt Nuray Şimşek vom IHD. Es liege zwar noch keine qualifizierte Haftunfähigkeitsbescheinigung vor, allerdings seien diverse Krankenunterlagen von Özbek bei Gericht eingereicht worden. „Wir hoffen, dass die Anklageschrift in naher Zukunft fertiggestellt und die Arztberichte dabei berücksichtigt werden. Makbule Özbek war bis zu ihrer Verhaftung in ärztlicher Behandlung. Sie muss freikommen, um am Leben zu bleiben“, ergänzte Mehmet Acettin.