Die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten Filiz Kerestecioğlu in der Türkei war nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ein Verstoß gegen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Maßnahme habe den konkreten Zweck gehabt, Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken, heißt es in einer Entscheidung vom Dienstag (Beschwerdenr.: 68136/16). Ankara soll Kerestecioğlu eine Entschädigung von 9.000 Euro zahlen. Die Politikerin bedankte sich nach der Urteilsverkündung bei ihren Verteidigerinnen mit den Worten: „Wie gut, dass es Anwältinnen gibt. Glücklicherweise haben wir Solidarität, die unsere Arbeit sichtbar macht.“
Die Immunität der feministischen Rechtsanwältin und Politikerin Filiz Kerestecioğlu war im Mai 2016 aufgehoben worden. Zuvor hatte das türkische Parlament einer zur „Terrorismusprävention” von der islamistischen Erdoğan-Partei AKP initiierten Verfassungsänderung zugestimmt und damit den Weg zur Strafverfolgung von Abgeordneten freigemacht. Betroffen von dem Immunitätsentzug waren insgesamt 154 Parlamentsmitglieder, mehr als ein Drittel davon Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Unmittelbar nach der Verfassungsänderung wurden zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Opposition eingeleitet. Die losgetretene Repressionswelle fand mit der Verhaftung von zehn HDP-Abgeordneten, darunter den damaligen Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, am 4. November 2016 ihren vorläufigen Höhepunkt.
Grund für Immunitätsentzug: Feministischer Protest
Im Fall von Kerestecioğlu wurde der Immunitätsentzug mit einem Ermittlungsbericht der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul begründet, der dem türkischen Parlament im Februar 2016 vorgelegt worden war. Darin ging es um eine Frauenkundgebung in der Bosporus-Metropole, die unerlaubter Weise stattgefunden hätte, und eine Ansprache der Politikerin. Dadurch, dass Kerestecioğlu als Rednerin auftrat, habe sie verdeutlicht, den illegalen Protest angeführt zu haben. Die damals 55-Jährige war in der Folge wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz angeklagt, im Januar 2018 jedoch freigesprochen worden.