„Die Gefangenen werden in den Tod getrieben“

Der HDP-Abgeordnete Ömer Faruk Gergerlioğlu warnt aufgrund der Überbelegung und der Rechtsverletzungen in den türkischen Gefängnissen und erklärt, die Gefangenen würden regelrecht in den Tod getrieben.

Der Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Ömer Faruk Gergerlioğlu, beschreibt die Situation der Gefangenen in der Türkei als dramatisch. Er sagt: „Das Institut für Rechtsmedizin in Istanbul steht unter politischem Druck. Deswegen verlassen die Gefangenen das Gefängnis nur, wenn sie im Sterben liegen oder erst im Sarg.“ Im ANF-Gespräch berichtet der HDP-Abgeordnete über die dramatische Lage in den Gefängnissen und sagt, die Türkei hätte in einem Jahr ihren Rekord an Inhaftierungen gebrochen. Der Anteil von Inhaftierungen sei um 89,3 Prozent gestiegen.

„Es herrscht eine schreckliche Lage“, erklärt Gergerlioğlu. „Aus diesen Gründen sind die Gefängnisse überfüllt. Einige Gefängnisse haben eine Auslastung von bis zu 166 Prozent. Wenn 35 Personen in einer Zelle für zehn Personen einsperrt werden, dann hat dies in erster Linie einen negativen Einfluss auf die geistige und körperliche Gesundheit der Betroffenen. Das ist im Moment das größte Problem. Der Gesundheitszustand der Inhaftierten verschlechtert sich, und die Zahl der kranken Gefangenen nimmt von Tag zu Tag zu. Menschen, die krank ins Gefängnis gehen, werden noch kränker. Im Moment sind die Todesraten in Gefängnissen sehr hoch. Die Türkei ist auf der Rangliste der Staaten mit den meisten Todesfällen in Haft an zweiter Stelle nach Russland. Bei 13,9 Prozent der Toten handelt es sich um Suizide.“

Gergerlioğlu erinnerte an die Gesetzentwürfe der HDP zur Erleichterung der Aussetzung von Haftstrafen und sagt: „Menschen mit Krebs, Alzheimer und anderen chronischen und schweren Erkrankungen sollten nicht im Gefängnis sein. Das Verfahren zur Entlassung ist massiv erschwert. Es gibt nur Verschlechterungen in Hinsicht auf Regelungen von Strafaussetzungen. Mir liegen viele Fälle vor. Zum Beispiel Özge Özbek. Sie hat einen Hirntumor im Stadium 4 und hatte eine ziemlich schwere Gehirnoperation. Vor einem Jahr wurde der Vollzug ausgesetzt, dann wurde diese Aussetzung annulliert und jetzt befindet sie sich wieder im Gefängnis. Das Krankenhaus sagt, sie sei haftunfähig, aber das Istanbuler Institut für Gerichtsmedizin spricht von ‚Haftfähigkeit‘. Wir alle gehen in Krankenhäuser und ein Arzt ist ein Arzt. Das gilt auch für die Ärzte im Krankenhaus und doch wohl auch für die am gerichtsmedizinischen Institut. Das Institut für Rechtsmedizin in Istanbul steht unter politischem Druck. Deswegen verlassen die Gefangenen das Gefängnis nur, wenn sie im Sterben liegen oder erst im Sarg.“

Gergerlioğlu weist auf die Situation der schwer an Demenz erkrankten, inhaftierten HDP-Politikerin Aysel Tuğluk hin und erinnert daran, dass obwohl die gerichtsmedizinische Fakultät am Universitätsklinikum von Kocaeli zweimal Haftunfähigkeit festgestellt habe, das Verfahren vom gerichtsmedizinischen Institut in Istanbul gestoppt worden sei. Auch in Bezug auf die Gefangenen aus der Fethullah-Gülen-Gemeinde werde die gleiche Praxis angewandt, führt der Politiker aus und fügt an: „Erst kürzlich sind zwei Gefangene gestorben. Einer von ihnen war der 86-jährige Nusret Muğlu. Der andere ist Yusuf Pekmezci, ein 83-jähriger. Für beide war die Aussetzung der Inhaftierung längst überfällig. Die Haltung der Regierung wurde hier sehr deutlich: ‚Ich werde dich nicht entlassen, du bekommst kein Attest, ich werde dich töten.‘ Ich habe auch den Fall des Gefangenen Abdo Baran sehr genau verfolgt. Obwohl er nicht bei Bewusstsein war, wurde er auf der Intensivstation mit Handschellen ans Bett gefesselt und starb dort. Das habe ich im Plenum zur Sprache gebracht: Im Gefängnis von Wan beging der 20-jährige Şervan Cangüder aufgrund einer Depression, die er während seiner fünfjährigen Haftzeit erlitten hatte, Suizid. Der 28-jährige schwer kranke Gefangene Sinan Kaya, mit transplantierter Leber, beging ebenfalls Selbstmord.

Es geschehen schwerste Tragödien“

Gergerlioğlu schließt mit den Worten: „Wir sehen, dass in den Gefängnissen schwerste Tragödien geschehen. Die Regierung vertuscht diese Fälle. Es gibt, Sie würden es nicht glauben, so viele Namen, die wir nicht vergessen können. Wir dürfen die Namen dieser Menschen nicht vergessen, sie hinterlassen einen tiefen Eindruck bei uns. Jeder vergisst, aber wir können das nicht. Diese Menschen sind in fairen oder unfairen Verfahren abgeurteilt worden, aber hier muss doch die Politik mal beiseite gelassen werden. Wir wünschen doch kranken Menschen unabhängig von Politik, Glaube und Konfession gute Besserung. Wenn wir uns aber die Berichte des Instituts für Gerichtsmedizin ansehen, dann wird klar, dass diese nach Feindrecht erstellt wurden. Dafür ist Aysel Tuğluk das beste Beispiel. Der Bericht des Instituts für Gerichtsmedizin ist voll von Anschuldigungen über angebliche Verbrechen. Das bedeutet, hier überwiegt das politische Interesse. Es hätten Menschenleben gerettet werden können, aber wir haben so viele junge Menschen dennoch verloren.“