Seit 31 Monaten gibt es kein Lebenszeichen vom auf der Insel Imrali inhaftierten kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Diese Form der Totalisolation widerspricht sowohl nationalem wie auch internationalem Recht. Anwaltsbesuche werden unter dem Vorwand verschiedener Disziplinarstrafen vollständig verhindert. Auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) besagt, dass der türkische Staat mit der Verhängung einer nichtreduzierbaren lebenslangen Haftstrafe gegen Öcalan gegen das „Recht auf Hoffnung“ verstoße. Nach Artikel 107 (16) des türkischen Strafvollzugsgesetzes sollen Personen, die wegen Handlungen, die im Rahmen der Tätigkeit einer „Terrororganisation“ begangen wurden, und zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, bis zum Tod in Haft verbleiben.
„Vollzug bis zum Tod“ widerspricht dem Folterverbot
Diese Praxis des Vollzugs „bis zum Tod“ wurde erstmals mit einem Urteil zum Vollzug von Abdullah Öcalan auf die Tagesordnung des EGMR gesetzt. Der EGMR sprach am 18. März 2014 ein Urteil zu Abdullah Öcalan, das als Öcalan-1-Entscheidung bezeichnet wird. In dem Urteil stellt das Ministerkomitee fest, dass eine verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Entlassung gegen das Folterverbot verstoße und diesbezüglich eine gesetzliche Neuregelung in der Türkei getroffen werden müsste. Diese Entscheidung aus dem Jahr 2014 hätte zur Folge, dass der Vollzug der Haftstrafe von Abdullah Öcalan im Jahr 2024 überprüft werden müsste. Denn der EGMR hält die Vollendung von 25 Jahren Haft für einen angemessenen Zeitraum für die „Überprüfung“ von lebenslänglich Inhaftierten.
Türkei: „Recht auf Hoffnung“ gilt nicht für Öcalan
Am 3. Dezember 2021 verkündete der EGMR eine Entscheidung, die sogenannte Öcalan-2-Entscheidung, in Bezug auf einen Antrag der Anwält:innen Öcalans. Der EGMR forderte in seinem Urteil die Türkei auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die bestehenden gesetzlichen Regelungen mit den vom EGMR festgelegten Standards in Einklang zu bringen. Im gleichen Rahmen forderte er Informationen über die Anzahl der zu lebenslanger Strafe verurteilten Personen in Haft und bat die Türkei, diese Angaben bis September 2022 zu übermitteln. In ihrer Antwort erklärte die Türkei, dass Abdullah Öcalan von diesem Recht ausgenommen sei: „Die bedingte Entlassung von Verurteilten, die zu einer schweren lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurden, ist möglich, aber einige Straftaten sind von dieser Möglichkeit ausgenommen.“
Im ANF-Interview äußert sich die HEDEP-Abgeordnete Newroz Uysal zum Vorgehen des türkischen Staates gegen Abdullah Öcalan. Uysal war lange Zeit im Verteidigerteam von Öcalan und seinen drei Mitgefangenen auf Imrali und ist die letzte Rechtsanwältin, die ihren Mandanten Öcalan im August 2019 gesehen hat.
Was ist dieses „Recht auf Hoffnung“, das der EGMR einfordert?
Im Wörterbuch wird Hoffnung beschrieben als Gefühl der inneren Zuversicht, das sich aus dem Hoffen ergibt. In der juristischen Terminologie kann ich es kurz definieren als „die Möglichkeit der Entlassung eines zu lebenslanger Haft oder verschärfter lebenslanger Haft Verurteilten“.
Mit dem Fortschreiten der Menschenrechte weltweit haben viele Staaten mit der Aufhebung der Todesstrafe die Möglichkeit der Inhaftierung bis zum Tod ohne die Option auf Freilassung eingeführt. Aufgrund dieser Art des Vollzugs von Freiheitsstrafen bis zum Tod wurde das Konzept des „Rechts auf Hoffnung“ entwickelt. Es wird angenommen, dass dieser Begriff erstmals mit der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1997 eingeführt wurde. In dieser Entscheidung wurde festgestellt, dass eine solche Art der Bestrafung einen schweren Schlag gegen den Kern der Menschenwürde durch den Staat darstellt. Diese Entscheidung bildet die Grundlage für die aktuellen Urteile. Auf diese Gerichtsentscheidungen folgte die Anerkennung der Verletzung des Rechts auf Hoffnung als einen Verstoß gegen Artikel 3 der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), der unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe verbietet, durch den EGMR. Die erste grundlegende Entscheidung war „Vinter and Others v. the United Kingdom“ vom 9. Juli 2013.
Wie ist der Stand der Umsetzung dieser Urteile in der Türkei?
In der Türkei wurde die Todesstrafe durch das Gesetz Nr. 5170 vom 14. Juli 2004 durch eine verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe ersetzt. Mit dem neuen Strafgesetz vom 1. Juni 2005 wurde die verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe als Vollstreckung der Haft unter schweren Isolationsbedingungen und als Haft bis zum Tod definiert. Obwohl das Konzept des Rechts auf Hoffnung in der Türkei nach dieser Änderung partiell diskutiert wurde, fanden die ersten größeren Debatten erst nach dem Urteil des EGMR zu Abdullah Öcalan am 18. März 2014 statt. Die verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe, die von der Türkei nach der Abschaffung der Todesstrafe im Anschluss an das Todesurteil gegen Abdullah Öcalan eingeführt wurde, ist als „lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit der Freilassung“ für als terroristische Straftaten definierte Handlungen geregelt. Die Vollstreckung der verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe bis zum Tod führt zum Entzug des „Rechts auf Hoffnung“. In dem EGMR-Urteil wurde unter Verweis auf das Urteil in der Rechtssache „Vinter and Others v. the United Kingdom“ festgestellt, dass die Möglichkeit einer bedingten Entlassung geschaffen werden müsse, indem entsprechende Gesetze im Einklang mit dem Urteil geschaffen werden.
Im Ergebnis bedeutet es, dass jeder Mensch die Aussicht haben muss, durch eine greifbare und erfüllbare gesetzliche Regelung freizukommen. Der Kern des Rechts auf Hoffnung ist die „Achtung des Menschseins und der Schutz der Menschenwürde“. Wenn die verschärfte lebenslange Haft in der Türkei nicht in Übereinstimmung mit diesem EGMR-Urteil und den Rechtsgrundsätzen geregelt wird, werden Tausende von Gefangenen, insbesondere Abdullah Öcalan, durch diskriminierenden, ungleichen und einem Vollzug, der den Tatbestand der Folter erfüllt, ihres „Rechts auf Hoffnung“ beraubt. Die Türkei verstößt gegen verbindliche internationale Konventionen, indem sie diese Art der Bestrafung juristisch nicht verändert und sie weiterhin anwendet, weil sie befürchtet, dass Abdullah Öcalan eines Tages freikommen könnte.
Das Recht wurde gegen Abdullah Öcalan geändert
Warum erkennt die Türkei dieses Recht nicht an?
Abdullah Öcalan selbst ist der Grund, warum der Vollzug bis zum Tod und damit der Entzug des Rechts auf Hoffnung in der Türkei eingeführt wurde. Auf dem Weg zum EU-Beitritt hat die Türkei die Todesstrafe schrittweise abgeschafft. Wenn man die Debatten aus dem Jahr 2002, während des Prozesses der Abschaffung der Todesstrafe verfolgt, dann kann diese Entwicklung aus der Presse, den Kolumnen, den Nachrichtensendungen sowie aus den Parlamentsprotokollen nachvollzogen werden. Die Verantwortlichen erklärten damals: „Alle zum Tode verurteilten Terroristen, insbesondere der Terroristenführer, haben nach Artikel 17 die Möglichkeit, nach 33,5 Jahren freigelassen zu werden – er ist jetzt seit dreieinhalb Jahren im Gefängnis –, und wir wollen das definitiv verhindern. Wir können das verhindern, indem wir Todesurteile in verschärfte lebenslange Haft umwandeln und eine Regelung treffen, dass sie nicht in den Genuss einer bedingten Entlassung, eines Aufschubs oder einer Amnestie kommen können“, während andere sagten: „Wenn man einen Menschen hinrichtet, stirbt er einmal. Wenn man ihm eine schwere Strafe gibt, tötet man ihn jeden Tag.“ Das beschreibt die dahinter stehende Mentalität.
Mit dieser Art der Inhaftierung wollte die Türkei juristisch verhindern, dass Abdullah Öcalan frei kommt. Mit dem EGMR-Urteil wurde jedoch festgestellt, dass dieses Verhalten selbst rechtlich gegen das Folterverbot verstößt. Dieses Urteil ist bis heute, also seit neun Jahren, nicht umgesetzt worden. Hunderte von Menschen sind in der Türkei nach dem Urteil gegen Abdullah Öcalan zu verschärfter lebenslanger Haft verurteilt worden. In den Verfahren gegen Hayati Kaytan, Emin Gurban und Civan Boltan entschied der EGMR, dass die lebenslange Vollstreckung von verschärften lebenslangen Haftstrafen gegen Artikel 3 der EMRK verstößt.
Um die Umsetzung des Rechts auf Hoffnung in der Türkei zu realisieren, ist es notwendig, anstelle der Vollstreckung der verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe bis zum Tod, eine Regelung einzuführen, die mit der Menschenwürde und dem Gesetz vereinbar ist. Eine solche Gesetzesänderung ist entweder durch den politischen Willen in der Türkei, das Gesetz zu ändern, oder durch den Kontrollprozess des Ministerkomitees des Europarates, das für die Umsetzung des EGMR-Urteils zuständig ist, möglich. Der politische Wille der Regierung der Türkei, sowie die Politik der Aggression gegen die kurdische Bevölkerung und die Politik der Verhinderung jeder politischen Lösung, begünstigen jedoch keine Regelung, die es Abdullah Öcalan auch nur rechtlich ermöglichen würde, theoretisch freizukommen. Im Gegenteil, die Bedingungen der Isolation werden jeden Tag, der vergeht, weiter verschärft. Das Ministerkomitee des Europarats ist langsam, ineffektiv und erfüllt den gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollprozess nicht. Das Geschehen wird einfach nicht auf die Tagesordnung seiner Sitzungen genommen.
Das türkische Verfassungsgericht zögert mit einer Entscheidung in dieser Frage. Gesetzesänderungsvorschläge, die von Abgeordneten zu verschiedenen Zeitpunkten eingereicht wurden, wurden in den Parlamentsausschüssen verzögert und nicht auf die Tagesordnung gesetzt. Die Tatsache, dass das Ministerkomitee seine rechtlichen Befugnisse nicht nutzt, um gegen das Verhalten der Türkei vorzugehen, erweckt den Eindruck eines begünstigenden rechtlich-politischen Vorgehens.
„Es geht um das Recht auf Hoffnung für das kurdische Volk“
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Verhinderung des Rechts auf Hoffnung und den Angriffen auf das kurdische Volk?
Wir haben ja bereits festgestellt, dass der Grund für die Aushebelung des Rechts auf Hoffnung Herr Abdullah Öcalan selbst ist. Öcalans rechtswidrige Entführung im internationalen Komplott, mit dem Ziel, ihn an die Türkei auszuliefern, die Unfairness seines Verfahrens, die Verhängung eines Todesurteils, die Bedingungen im Imrali-Gefängnis und dessen rechtswidrige Schaffung, die Umwandlung des Todesurteils in eine verschärfte lebenslange Haftstrafe und vieles mehr sind Teil des Imrali-Systems. Der Grund für dieses System ist die Politik der Ablehnung einer Lösung für die kurdische Frage und der Krieg. Abdullah Öcalan tritt für eine Lösung und Frieden ein, und wurde dafür bestraft und wird als Geisel gehalten, weil er sich gegen die Kriegspolitik stellte. Seine Bestrafung ist wie eine Hinrichtung auf Raten. Parallel dazu wurde der Spezialkrieg und der offene Krieg auf allen Ebenen gegen das kurdische Volk praktiziert. Mit anderen Worten, es ist die Hoffnung des kurdischen Volkes auf Freiheit, die hier bis in den Tod bestraft wird.
In diesem Sinne gibt es einen tiefgreifenden Unterschied der zu lebenslanger Haft Verurteilten, denen jegliche Perspektive auf Freilassung verweigert wird, zu allen anderen Verurteilten. Während diese unter schwersten Vollzugsbedingungen leiden, ist die Situation von Abdullah Öcalan noch gravierender. Ihm wird das auch für Lebenslängliche festgelegte Recht auf Anwaltsbesuche, Familienbesuch, Besuch seines Treuhänders, das Recht zu telefonieren und nach außen zu kommunizieren verweigert. Der Grund für diese Ungleichbehandlung und Diskriminierung liegt in der politischen Stellung Abdullah Öcalans als Repräsentant eines Volkes. In diesem harten Isolationssystem gibt es nun seit 31 Monaten kein Lebenszeichen von ihm.
Dieses Vorgehen bedeutet auch, dass das kurdische Volk im Nahen Osten und in der Welt, einschließlich aller Teile Kurdistans, isoliert werden soll. Die Organisatoren und Umsetzer des Isolationssystems sind die gleichen Kräfte, die sich gegen die Lösung der kurdischen Frage stellen. Mit dem geraubten Recht auf Hoffnung soll die Freiheit von Abdullah Öcalan juristisch verhindert werden, und diese Haltung betrifft auch Hunderte weitere politische Gefangenen. Politisch will man der Freiheit des Volkes Steine in den Weg legen. Jeder freiheitsverhindernde Schritt, jeder Kriegsbeschluss, jede Spezialkriegspolitik, jeder Waldbrand, jedes Massaker, jeder Verbotsbeschluss, jede Repressionsmaßnahme gegen die kurdische Politik, jeder Femizid, jeder Angriff ist gegen die Hoffnung auf Lösung, Frieden und Freiheit gerichtet.
Wenn dagegen eine ähnliche Haltung, wie sie Abdullah Öcalan auf Imralı an den Tag legt, sowohl individuell als auch auf organisatorischer Ebene erreicht wird, wird sowohl das Recht auf Hoffnung als auch die politische Freiheit des kurdischen Volkes und der Völker insgesamt möglich sein.