Bünger: Bund und Länder machen sich zu Erfüllungsgehilfen Erdogans

Wie aus einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion hervorgeht, werden trotz Krieg und systematischer Verfolgung nur 13,4 Prozent der nordkurdischen Asylsuchenden anerkannt.

Eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Clara-Anne Bünger (DIE LINKE) hat erschreckende Zahlen ans Licht gebracht. Nur 13,4 Prozent der Kurd:innen, die vor dem AKP/MHP-Regime aus der Türkei fliehen, erhielten im Jahr 2021 einen Schutzstatus. Bei als „türkischstämmig“ registrierten Antragssteller:innen liegt die Schutzquote bei 77,8 Prozent. Bünger hatte ihre Anfrage aufgrund der vermehrten Abschiebungen von politisch verfolgten Kurd:innen in die Türkei gestellt. Die Abgeordnete wirft Bund und Ländern vor: „Zu Recht wird kritisiert, dass Bund und Länder sich so zu Erfüllungsgehilfen von Erdoğans beispiellosen Angriffen auf Kurden, Linke und Oppositionelle machen. Diese Politik muss umgehend gestoppt werden.“

Heybet Şener: Ein Beispiel von vielen

So wurde beispielsweise der 31-jährige Heybet Şener, der im Juli 2018 in Deutschland einen Asylantrag gestellt hatte und in der Türkei nach dem Repressionsparagraphen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ zu mehr als acht Jahren Haft verurteilt worden war und gegen den weitere Verfahren aufgrund angeblicher Beleidigung des Regimechefs Erdoğan und „Terrorpropaganda“ anhängig sind, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)  abgelehnt. Seine für Anfang Februar 2021 angesetzte Abschiebung konnte erst in letzter Minute verhindert werden.

6752 Asylentscheidungen bei Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft

Aus der Kleinen Anfrage geht hervor, dass es im Jahr 2021 beim  BAMF insgesamt 6752 Entscheidungen in Asylverfahren von türkischen (2846) und kurdischen (3906) Geflüchteten gegeben hat. Auch im Jahr 2022 wurden weit mehr Entscheidungen zu Kurd:innen gefällt als zu Menschen, die als Türk:innen registriert wurden: Im Januar und Februar 2022 gab es insgesamt 1632 Entscheidungen, davon betrafen 639 türkische und 993 kurdische Asylsuchende.

Erhebliche Diskrepanz bei den Schutzquoten

Obwohl der Verfolgungsdruck für Kurd:innen in der Türkei extrem hoch ist, was auch aus der Zahl der Verfahren deutlich wird, gibt es in den bereinigten Schutzquoten, welche die inhaltlichen Entscheidungen des BAMF widerspiegeln, eine dramatische Diskrepanz. So wurden 2021 nur 13,4 Prozent der kurdischen Asylsuchenden aus dem türkischen Staatsgebiet ein Schutzstatus zuteil, während es bei den als „türkischstämmig“ registrierten Personen 77,8 Prozent waren. Damit lag die Gesamtschutzquote für die Türkei bei 43,3 Prozent.

In den Monaten Januar und Februar diesen Jahres setzte sich dieser diskriminierende Trend fort. So erhielten nur 13,3 Prozent der Kurd:innen einen Schutzstatus, während es bei den übrigen türkischen Staatsbüger:innen 79,2 Prozent waren. Die Gesamtschutzquote betrug 41,2 Prozent. Auch vor den Gerichten spiegelt sich dieser Trend wider. So wurden 2021 3780 BAMF-Entscheidungen von Asylsuchenden aus der Türkei gerichtlich angefochten. 3130 der Klagen wurden von Kurd:innen geführt. Aber auch hier ist bildet sich die politische Entscheidungspraxis des BAMF gegen Kurd:innen ab. So betrug 2021 die bereinigte Aufhebungsquote von BAMF-Entscheidungen durch die Gerichte bei Kurd:innen nur 18 Prozent, während bei türkisch-registrierten Personen die Aufhebungsquote bei 47,5 Prozent lag.

Brauns: „Linke Kurden sind von Seiten des Staates nicht willkommen"

Bereits 2019 hatte der Historiker und Gülen-Experte Nick Brauns zur damals schon deutlichen Diskrepanz in den Schutzquoten gegenüber Artı Gerçek erklärt: „Amtliche Asylstatistiken zeigen, dass inzwischen mehr ethnische Türken als Kurden fliehen und unter den Türken finden sich überdurchschnittlich viele Akademiker. Gleichzeitig ist die Asylanerkennungsquote der türkischen Flüchtlinge viel höher als diejenige der Kurden. Es hat den Anschein, dass hier insbesondere gut ausgebildete Gülenisten, die auch der deutschen Wirtschaft nützen können, Asyl erhalten. Linke Kurden dagegen bekommen oftmals kein Asyl, obwohl sie in der Türkei scharf verfolgt werden. Doch sie gelten schließlich auch in  Deutschland als Terroristen und sind hier von Seiten des Staates nicht willkommen.“

Zahl der Abschiebungen in die Türkei steigt rapide

2021 wurden 361 Personen in die Türkei abgeschoben, davon zehn im Rahmen von Sammelabschiebungen in einem eigens dafür gecharterten Flugzeug. In den ersten beiden Monaten 2022 gab es bereits 68 Abschiebungen in die Türkei. Diese Abschiebungen erfolgten allesamt mit Linienflügen. Grundsätzlich ist ein deutlicher Anstieg von Abschiebungen in die Türkei zu verzeichnen. So waren 2020 nur 79 Menschen in das Land abgeschoben worden, 2019 waren es 154. Zum Anstieg der Abschiebungen sagt Clara-Anne Bünger: „Die Zahl der Abschiebungen in die Türkei ist 2021 gegenüber den Vorjahren sprunghaft angestiegen. Durch Berichte aus der Praxis ist bekannt, dass von diesen Abschiebungen immer wieder kurdische Geflüchtete betroffen sind, denen in der Türkei willkürliche Haft, Folter und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen drohen. Zu Recht wird kritisiert, dass Bund und Länder sich so zu Erfüllungsgehilfen von Erdoğans beispiellosen Angriffen auf Kurden, Linke und Oppositionelle machen. Diese Politik muss umgehend gestoppt werden.“

Keine Rechtsstaatlichkeit in Terrorverfahren

Trotz der vielen Abschiebungen erklärt die Bundesregierung zur politischen Lage in der Türkei, man sei in großer Sorge unter anderem wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz und der Einschränkungen der Meinungsfreiheit und anderer Grundrechte. Insbesondere im Bereich „Terrorismus/Staatsschutz“ sei die Rechtsstaatlichkeit „stark beeinträchtigt“ und könne „nicht grundsätzlich angenommen“ werden. Außerdem habe „der Druck auf die linkskurdische Opposition hat seit 2021 weiter zugenommen“.

Bundesregierung beschönigt Situation in türkischen Gefängnissen

Obwohl mittlerweile immer mehr Gefangene in der Türkei sterben und Foltermeldungen aus den Gefängnissen Alltag sind, beschönigt die Bundesregierung die Lage in den Gefängnissen und erklärt, Folter und Misshandlungen in den Gefängnissen sei nicht systematisch, es handele sich um Einzelfälle. Gegenüber Behauptungen in Entscheidungen des BAMF, etwa, dass es „nur“ auf Polizeiwachen, nicht aber in Gefängnissen zu Folter komme, oder dass politische Oppositionelle sich derzeit in der Türkei „prinzipiell frei und unbehelligt“ am politischen Prozess beteiligen könnten, verweigert die Bundesregierung die Stellungnahme.

Bünger: „Gefährdung von politisch aktiven Kurden muss anerkannt werden“

Clara-Anne Bünger erklärt zu den Antworten der Bundesregierung: „Einerseits gibt die Bundesregierung zu, dass die Situation in der Türkei insbesondere für linke und kurdische Oppositionelle höchst besorgniserregend ist und sich im vergangenen Jahr sogar noch verschlechtert hat. Andererseits lehnt das BAMF die Asylanträge von kurdischen Geflüchteten seit Jahren reihenweise ab. Das kann doch nicht sein. Ich erwarte, dass bei der Entscheidungspraxis im BAMF grundlegend umgesteuert wird: Die massive Gefährdung von politisch aktiven Kurdinnen und Kurden muss endlich anerkannt werden, die Betroffenen brauchen Schutz!“