Amnesty International warnt vor HDP-Verbot

Amnesty International fordert die Einstellung des Verbotsverfahrens gegen die HDP und die Berücksichtigung der zahlreichen verbindlichen Urteile des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs durch die Türkei.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert die Einstellung des Verbotsverfahrens gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) und die Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen durch die Türkei. Die HDP „ist die zweitgrößte Oppositionspartei der Türkei. Seit 2021 läuft gegen sie ein Verbotsverfahren. Noch steht ein Urteilsspruchs des türkischen Verfassungsgerichts aus. Es wird befürchtet, dass die HDP noch vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai verboten werden könnte. Dies würde in mehrfacher Hinsicht gegen die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigung verstoßen“, erklärte Amnesty International am Donnerstag.

Eine Anordnung zur Auflösung der HDP und ein Politikverbot für mehrere hundert derzeitige und ehemalige HDP-Mitglieder würde eindeutig gegen die internationalen Verpflichtungen der Türkei verstoßen, stellt Amnesty International fest und teilt zum Hintergrund mit:

Wahlen in der Türkei: Oppositionspartei HDP droht Verbot

Der Generalstaatsanwalt beim türkischen Kassationsgericht hatte im März 2021 eine Klageschrift auf das Verbot der HDP eingereicht. Zuvor hatte der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahçeli, wiederholt öffentlich dazu aufgerufen, die HDP wegen angeblicher „Terrorverbindungen" zu verbieten. Das Verfassungsgericht verwies die Anklageschrift an den Generalstaatsanwalt zurück. Die Begründung lautete, dass die Anklageschrift keine ausreichenden Beweise für die Behauptung enthalte, dass es sich bei der HDP um ein „Zentrum der terroristischen Organisation" PKK/KCK handelt. Eine zweite Verbotsklage, die im Juni 2021 von der Staatsanwaltschaft eingereicht wurde, nahm das Verfassungsgericht an.

In der Anklageschrift wird der HDP vorgeworfen, sich an Aktivitäten beteiligt zu haben, die gegen die „unteilbare Integrität des Staates mit seinem Gebiet und seiner Nation" gerichtet seien, und zu einem Zentrum derartiger Aktivitäten geworden zu sein.

Die 2012 gegründete HDP erreichte bei den Parlamentswahlen 2018 einen Stimmenanteil von fast zwölf Prozent. In der 843-seitigen Anklageschrift, in der ein Verbot der HDP gefordert wird, wird behauptet, die HDP sei „das Zentrum von Aktivitäten, die im Einklang mit den Zielen der terroristischen Organisation PKK/KCK durchgeführt werden".

EGMR stellt mehrfach Menschenrechtsverletzungen fest

Bei der HDP handelt es sich um die achte pro-kurdische linksgerichtete Partei in der Türkei, gegen die seit 1993 wegen vermeintlicher Verstöße gegen die Verfassung ein Verbotsverfahren eingeleitet wurde. In dieser Zeit wurden fünf Parteien wegen angeblicher Verbindungen zu der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK aufgelöst. Zwei weitere Parteien lösten sich selbst auf. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), zu dessen Vertragsstaaten die Türkei gehört, hat in allen Anträgen, die auf die Auflösung pro-kurdischer Parteien folgten, mehrere Verstöße gegen Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt. In erster Linie deswegen, weil keine „dringende gesellschaftliche Notwendigkeit" für die Parteiverbote dargelegt worden sei. Die erste politische Partei, die aufgelöst wurde, weil sie sich mit kurdischen gesellschaftlichen und politischen Themen befasste, war die Arbeiterpartei der Türkei (TİP). Ihre Auflösung erfolgte 1971, lange bevor die PKK gegründet wurde.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte mehrmals Menschenrechtsverletzungen durch die Auflösung politischer Parteien sowie Beschränkungen für Personen, die mit diesen in Verbindung stehen, festgestellt. Diese Urteile wurden von der Türkei jedoch nicht umgesetzt. Die Urteile betrafen auch Fälle, in denen die Behörden die Immunität von HDP-Abgeordneten aufhoben, so dass sie aufgrund ihrer politischen Aktivitäten verfolgt werden konnten, sowie Fälle, in denen das Antiterrorgesetz dazu benutzt wurde, die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit unangemessen einzuschränken.

Der Gerichtshof hat auch festgestellt, dass vage formulierte Strafgesetze, insbesondere das Antiterrorgesetz (Nr. 3713) mit seiner weiten Auslegung, zur Bestrafung eines breiten Spektrums an legitimen Aktivitäten einschließlich der Äußerung politisch abweichender Meinungen verwendet wurden. Darüber hinaus hat der Gerichtshof ungerechtfertigte und unverhältnismäßige Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung durch strafrechtliche Ermittlungen gegen Oppositionelle auf der Grundlage verschiedener Paragrafen des Strafgesetzbuchs oder des Antiterrorgesetzes festgestellt.

Forderungen von Amnesty International

Die Auflösung der HDP würde einen Verstoß gegen die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigung bedeuten und die Möglichkeit der Menschen in der Türkei, an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten teilzuhaben, ernsthaft gefährden.

Amnesty International fordert die türkischen Behörden nachdrücklich auf, ihren Verpflichtungen gemäß internationaler Menschenrechtsnormen und der Europäischen Menschenrechtskonvention, ihren Protokollen und bisherigen Gerichtsurteilen nachzukommen, um sicherzustellen, dass diese Rechte ordnungsgemäß geschützt werden. Der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts muss die Klage gegen die HDP zurückziehen, zumal der EGMR bereits in früheren, vergleichbaren Parteiverbotsfällen durch die türkischen Behörden Verstöße gegen das Recht auf Vereinigungsfreiheit festgestellt hat.

Amnesty International fordert das Verfassungsgericht außerdem auf, die zahlreichen verbindlichen Urteile des EGMR, die für den aktuellen Fall relevant sind und als Richtschnur für das anstehende Urteil dienen sollten, zu berücksichtigen. Der türkische Staat und die türkische Justiz sind verpflichtet, die internationalen Menschenrechtsnormen einzuhalten und zu gewährleisten, dass alle Menschen im Land ihr Recht auf freie Meinungsäußerung frei ausüben können.