747. Mahnwache der Istanbuler Samstagsmütter

In Istanbul sind die Samstagsmütter zum 747. Mal zusammengekommen, um trotz Polizeiblockade nach dem Verbleib von Hasan Gülünay zu fragen, der seit seiner Festnahme vor genau 27 Jahren verschwunden ist.

Erneut ist der Initiative der Samstagsmütter verwehrt worden, auf ihrem angestammten Platz vor dem Istanbuler Galatasaray-Gymnasium nach dem Verbleib ihrer in Polizeigewahrsam verschwundenen Angehörigen zu fragen. Die 747. Kundgebung fand daher wieder im Polizeikessel vor dem Gebäude des Menschenrechtsvereins IHD statt. Unterstützt wurden die Samstagsmütter heute unter anderem von den CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu und Ali Şeker, der CHP-Provinzvorsitzenden Canan Kaftancıoğlu und Milena Buyum von der türkischen Amnesty-International-Sektion.

Thematisiert wurde bei der Kundgebung das Schicksal des vierfachen Familienvaters Hasan Gülünay, der nach seiner Festnahme heute vor genau 27 Jahren in Istanbul verschwunden ist. Zwei Monate zuvor war am 23. Mai 1992 der aus Sêwas (Sivas) stammende kurdische Guerillakämpfer Ali Ekber Atmaca (TKP/ML) in der Jandarma-Regimentskommandantur in der Schwarzmeerprovinz Artvin hingerichtet worden. Zuvor wurde er über Wochen gefoltert. Bei seinen persönlichen Gegenständen fand man damals den Ausweis von Hasan Gülünay. Die beiden Männer hatten in Istanbul im selben Stadtteil gewohnt. Daraufhin geriet Gülünay ins Visier der Polizei und wurde unter Beobachtung gestellt. Am 20. Juli 1992 verließ er seine Wohnung in Tarabya und kehrte nie wieder zurück.

Fall wegen Verjährung zu Akten gelegt

Als Suchmaßnahmen erfolglos blieben, wandte sich die Familie von Hasan Gülünay an die Istanbuler Polizei und Staatsanwaltschaft. Dort wurde ihnen mitgeteilt, dass der Vermisste zwar gesucht würde, sich allerdings nicht in Gewahrsam befinde. Später erfuhr die Familie von einem hochrangigen Polizeiangehörigen, dass sich Gülünay sehrwohl in Polizeigewahrsam befinde, dies allerdings erst nach Verheilung seiner Verletzungen, die ihm im Zuge schwerer Folter hinzugefügt wurden, öffentlich gemacht werden würde. Später gab ein Zeuge, der zur gleichen Zeit in der Istanbuler Antiterror-Zentrale verhört wurde an, Hasan Gülünay dort gesehen zu haben. Dieser habe gerufen: „Ich bin Hasan Gülünay. Man versucht, mich im Gewahrsam verschwinden zu lassen“. Trotz monatelanger Suchaktionen, vielfältigen Kampagnen, Gesprächen mit dem damaligen Innenminister und Anfragen im türkischen Parlament blieb die Suche nach Hasan Gülünay erfolglos. Wegen Verjährung wurde der Fall am 31. Oktober 2012 zu den Akten gelegt. Die Familie des Vermissten zog daraufhin vor das Verfassungsgericht, das am 21. April 2016 einen Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht bei der Durchführung von Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit feststellte. Die zuständige Generalstaatsanwaltschaft entschied später jedoch, das Verfahren nicht erneut aufzurollen, obwohl das „Verschwindenlassen“ als Verletzung des Menschenrechts nicht der Verjährung unterliegt.

„Unser Kampf um Gerechtigkeit wird weitergehen“

Die Journalistin Deniz Gülünay, Tochter des verschwundenen Hasan Gülünay, konnte an der heutigen Kundgebung der Samstagsmütter nicht teilnehmen. In einer Botschaft, die in ihrem Namen verlesen wurde, hieß es: „Als wir unseren Widerstand aufnahmen und anfingen, nach unseren vermissten Angehörigen zu suchen, lautete unsere Maxime: ‚Ihr habt sie lebend geholt – wir wollen sie lebend zurück‘. Dennoch wussten wir, dass wir sie nicht lebend wiedersehen werden, weil sie von der dunklen Hand des Staates in voller Absicht verschwunden gelassen wurden.

Mein Vater ist seit 27 Jahren verschwunden. Doch auch wenn tausend Jahre vergehen sollten, werden wir nicht aufhören, nach ihm und all den anderen, die vermisst werden, zu fragen. Unser Kampf um Gerechtigkeit wird weitergehen. Die Stimmen der Vermissten werden weiterhin auf den Straßen und Plätzen widerhallen.“  

Samstagsmütter

Vor mehr als 24 Jahren, am 27. Mai 1995, zogen die Mütter zum ersten Mal auf den Galatasaray-Platz im Zentrum Istanbuls, um gegen die weit verbreitete Praxis zu demonstrieren, Menschen in staatlichem Gewahrsam zu ermorden und die Leichen verschwinden zu lassen.

Seit vergangenem Jahr wird der Galatasaray-Platz jeden Samstag von der Polizei abgeriegelt, um die Aktion der Mütter zu unterbinden. Die Frauen und ihre Unterstützer*innen halten ihre regelmäßige Kundgebung daher in einer kleinen Seitenstraße vor der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD ab. Jede Woche wird ein anderer Fall vorgestellt, vor allem aus den 1990er Jahren, als das „Verschwindenlassen“ besonders weit verbreitet war.