Die HDP-Abgeordnete Leyla Güven befindet sich seit 128 Tagen im Hungerstreik gegen die Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Die Politikerin fordert Bedingungen für den PKK-Gründer, in denen er als Vorsitzender einer legitimen Bewegung frei leben und arbeiten kann, um so zur Lösung der kurdischen Frage beizutragen. Nach bisheriger Kenntnis schlossen sich vor 90 Tagen 331 politische Gefangene dem Protest an. Am 1. März wurde der unbefristete Hungerstreik auf alle türkischen Gefängnisse ausgeweitet. Damit hat die Zahl der hungerstreikenden Gefangenen aus PKK- und PAJK-Verfahren die 7.000 erreicht. Immer wieder werden jedoch Informationen öffentlich, wonach die Hungerstreikenden gravierenden Rechtsverletzungen ausgesetzt sind. Zuletzt wurde gegen 27 im Gefängnis von Istanbul-Maltepe inhaftierte Gefangene aufgrund ihrer Teilnahme am Hungerstreik ein Verfahren wegen „Unterstützung einer Terrororganisation“ eröffnet. Wir haben mit dem Rechtsanwalt Baran Çelik von der Plattform der freiheitlichen Jurist*innen (ÖHP) gesprochen.
7.000 Gefangene im Hungerstreik
Welches Ausmaß haben die Hungerstreiks in den Gefängnissen?
Wir als Gefängniskommission der ÖHP besuchen jede Woche die Gefängnisse und schreiben entsprechende Berichte. Kommenden Montag werden wir wieder einen Monatsbericht veröffentlichen. Ab dem 1. März haben sich alle politischen Gefangenen dem Hungerstreik angeschlossen. Davor waren es etwa 350 Personen in den Gefängnissen in der Türkei. Seit dem 1. März sind es 7.000, die genaue Zahl wird in unseren Bericht einfließen. Die momentane Situation der Hungerstreikenden ist sowohl wegen des Gewichtsverlustes als auch aufgrund der Folgekrankheiten äußerst kritisch.
Gefangenen werden Medikamente und Flüssigkeiten vorenthalten
Wie ist die Reaktion der Gefängnisleitungen?
Es gibt Rechtsverletzungen. Und genau das ist das Hauptproblem. Diese Menschen haben einen Hungerstreik mit einer Forderung nach Vollzug von Rechtsstaatlichkeit, wie er für ein demokratisches Land notwendig ist, begonnen. Am wichtigsten ist doch, dass sie sich selbst Nahrung vorenthalten und ihre Körper dem Hunger überlassen. Die Rechte der Gefangenen werden ohnehin verletzt. In dieser Phase nimmt die Folter jedoch noch weiter zu. Zum Beispiel findet Vereinzelung statt. Es gibt Gefängnisse, in denen nicht die notwendigen Medikamente und Flüssigkeiten zur Verfügung gestellt werden. Daher kann aufgrund dieser Praxis der Gefängnisleitungen bei Menschen, die dreißig oder vierzig Tage im Hungerstreik sind, ein Schaden entstehen, der normalerweise erst nach 100 Tagen vorkommt. Es gibt weit verbreitete Rechtsverletzungen und Misshandlungen. Die Situation in einigen Haftanstalten ist alarmierend.
Hungerstreikende Gefangene werden in Bunker geworfen
Was sind das für Rechtsverletzungen, von denen Sie sprechen?
Das ist eine sehr wichtige Angelegenheit. Um das Bewusstsein nicht zu verlieren, brauchen die Streikenden Vitamin B1 und Zucker. Wenn die Einnahme nicht erfolgt, entstehen Schäden. In manchen Gefängnissen wird kein B1-Vitamin oder zumindest nicht ausreichend verabreicht. Das ist das wichtigste Problem, aber daneben finden in den Gefängnissen weitere ernste Rechtsverletzungen statt. Seit Jahre werden die Gefangenen schlecht behandelt. Bei den Hungerstreiks gibt es insbesondere Isolation, die Gefangenen werden in die Bunker geworfen. Unter normalen Bedingungen dürfen diese Gefangenen nicht allein leben.
Verfahren gegen Gefangenen eingeleitet
Wurden Disziplinarverfahren eingeleitet?
Ja. Gegen die Hungerstreikenden werden Disziplinarverfahren eingeleitet. Darüber hinaus wurden im Gefängnis von Maltepe Verfahren wegen „Unterstützung einer Terrororganisation“ eingeleitet.
Gegen einen Gefangenen?
Nein, es wurde gegen alle Gefangenen, die im Maltepe-Gefängnis in den Hungerstreik getreten sind, ein solches Verfahren eingeleitet. Im Juni findet vor einem Gericht in Istanbul die erste Verhandlung in dem Prozess statt. Das ist wichtig zu erwähnen, denn hier wird wegen einer demokratischen Forderung ein Terrorverfahren eingeleitet. Die Disziplinarstrafen sind aber auch wichtig, denn den Gefangenen wird so verboten, Briefe zu erhalten, zu telefonieren und Besuch zu empfangen.
Gibt es auch ein Verbot von Anwaltsbesuchen?
Nein, das gibt es nicht, aber zur Zeit des Ausnahmezustands wurden die Gespräche auf Kamera aufgezeichnet und der Besuch von einem Beamten überwacht. Nach dem Ende des Ausnahmezustands wurde diese Praxis aufgehoben, wird aber immer noch im Gefängnis von Edirne angewandt. Mit den Hungerstreiks geht diese Praxis weiter.
Stellen Sie Anträge im Zusammenhang mit den Hungerstreiks?
Ja. Zum Beispiel gab es im Gefängnis von Düzce Folter. Darüber wurde auch in der Presse berichtet. Wir haben es angezeigt, daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bisher gibt es da allerdings keinen Fortschritt. Wir stellen einerseits Anträge bezüglich dieser Rechtsverletzungen und leisten andererseits Unterstützung bei den eröffneten Verfahren.
Wenn es Tote gibt, dann ist der Staat der Mörder
Was passiert auf juristischer Ebene, wenn ein Gefangener stirbt?
Der Staat ist für die Gefangenen verantwortlich. Wir hoffen, dass so etwas nicht geschieht, aber sollten die Forderungen nicht erfüllt werden und es zu einem Todesfall kommen, ist ohne Zweifel der Staat der Verantwortliche. Wenn jemand stirbt und wir die Verantwortlichen direkt benennen, dann ist der Staat der Mörder, da er die Versorgung der Gefangenen zu verantworten hat. Wie Sie wissen, gibt es im Hungerstreik nur eine Forderung; alle Teilnehmenden fordern die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan. Diejenigen, die den Grund für diese Isolation darstellen, sind sowieso dafür verantwortlich, wenn selbst nach einer solchen Aktion die Forderungen der Hungerstreikenden nicht erfüllt werden und es zu einem Todesfall oder schweren Krankheiten kommt, dann sind eben diese Personen, die Beauftragten des Staates, dafür verantwortlich.
„Es gibt keine ausreichende Haltung, die Aktionen müssen auf die Tagesordnung“
Denken Sie, dass die Reaktionen der gesellschaftlichen Opposition in Bezug auf die Hungerstreiks nicht ausreichen?
Ja, natürlich denke ich das. Es gibt in der Türkei Millionen von Menschen, die von den Hungerstreiks wissen. Die Opposition bezieht nicht ausreichend Stellung. Die Streiks sind weder in den sozialen Medien noch in den alternativen Medien ausreichend sichtbar. Leyla Güven hat hier einen positiven Einfluss. Sie ist wenigstens sichtbar. Das Thema muss umgehend auf die Tagesordnung.