1011. Mahnwache der Samstagsmütter
Die Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer inzwischen 1011. Mahnwache gegen das „Verschwindenlassen“ in staatlichem Gewahrsam vor dem Istanbuler Galatasaray-Gymnasium Gerechtigkeit für Ferhat Tepe gefordert. Der 1974 in Bedlîs (tr. Bitlis) geborene Journalist war erst 19 Jahre alt, als er am 28. Juli 1993 von der türkischen Konterguerilla am helllichten Tag im Zentrum seiner Geburtsstadt verschleppt wurde. Seit wenigen Monaten arbeitete Tepe als Korrespondent für die Tageszeitung Özgür Gündem („Freie Tagesordnung”), die als erste ihrer Art die kurdische Frage in der Türkei thematisierte. Am 4. August wurde die Leiche des schwer gefolterten Journalisten am Ufer des Hazar-Sees im knapp 350 Kilometer entfernten Xarpêt (Elazığ) von einem Angler aufgefunden.
Todesnachricht kam am Tag der Studiumszulassung
Ferhat Tepe war der sechste Mitarbeiter von Özgür Gündem, der seit deren Erscheinen am 30. Mai 1992 umgebracht wurde. Die Nachricht seines Todes kam am selben Tag wie die Zulassung zum Journalistik-Studium in Istanbul, wie seine Mutter Zübeyde später in einem Interview erzählen sollte. Urteile von Staatssicherheitsgerichten über Haftstrafen von bis zu 75 Jahren führten am 24. April 1994 zur Schließung der Zeitung. Während ihrer zweijährigen Erscheinungszeit wurden acht Korrespondenten und 19 Verteiler von Özgür Gündem durch „unbekannte Täter” ermordet. Auch Mitwirkende von Nachfolgezeitungen wurden getötet.
Täter war Brigade-Kommandeur
Ferhat Tepes Vater Ishak war zum Zeitpunkt des Verschwindens seines Sohnes Vorsitzender des Provinzverbands der kurdischen DEP (Demokratiepartei, 1994 verboten). Am Tag der Entführung erhielt er einen Anruf von einem Mann, der sich als Angehöriger des paramilitärischen Verbands „Türkische Rache-Brigade“ vorstellte. Er forderte die Schließung aller Parteibüros der DEP, die Freilassung von vier Touristen, die von kurdischen Guerillakämpfern entführt worden waren, und eine Milliarde Türkische Lira Lösegeld für die Freilassung von Ferhat Tepe. Der Anrufer wurde von Ishak Tepe als Korkmaz Tağma, Brigade-Kommandeur beim türkischen Militär in Bedlîs, identifiziert. Das letzte Mal rief er am 8. August bei der Familie an und teilte ihr mit, dass der Körper von Ferhat Tepe in der Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses in Xarpêt liegt. Recherchen ergaben, dass die Leiche des 19-Jährigen tatsächlich nur einen Tag nach dem Fund in einem „Grab für Namenlose” verscharrt worden war. Identifiziert wurde Ferhat Tepe schließlich von seinem Cousin Talat anhand von Fotos. Er wurde exhumiert, um ihm eine würdevolle Bestattung zukommen zu lassen.
Ferhat Tepes Schwester Ayşe Tepe (2. v. l.): Der Kampf um Gerechtigkeit ist noch lange nicht vorbei“. Am Mikrofon spricht Setenay Eren © MA
Korkmaz Tağma inzwischen Berater von türkischer Söldnerfirma
Obwohl Korkmaz Tağma als Hauptverantwortlicher für das Verschwindenlassen von Ferhat Tepe identifiziert wurde und Zeugen bestätigten, ihn mit dem Journalisten gesehen zu haben, ist er strafrechtlich nicht belangt worden. 20 Jahre nach dem Mord wurde die Ermittlungsakte mit Verweis auf die Verjährungsfrist geschlossen. 2003 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei aufgrund der mangelhaften strafrechtlichen Untersuchungen im Fall Ferhat Tepe und sprach seinen Angehörigen Entschädigungszahlungen zu. Die Familie des Journalisten ist fest davon überzeugt, dass der Mordauftrag vom Staat an Korkmaz Tağma und seine Leute vergeben wurde. Als Brigadegeneral ordnete Tağma in den 90ern tatsächlich dutzende staatliche Morde an kurdischen Zivilistinnen und Zivilisten an. In Bedlîs wurde er deshalb von der Bevölkerung „Leichensammler“ genannt. Nach seiner „Karriere” beim türkischen Militär arbeitete er als Kolumnist für die von dem islamistischen Prediger Fethullah Gülen gegründete und inzwischen verbotene Zeitung Zaman („Die Zeit”). Inzwischen gehört er zu den Top-Beratern von SADAT, einer Söldnerfirma des türkischen Staates. Nach wie vor genießt er ein Leben in Freiheit.
Tradition in der Türkei: Täter mit Straflosigkeit belohnen
„Die Straflosigkeit, die in der Türkei ein weit verbreitetes Problem ist, führt dazu, dass bestehende innerstaatliche Rechtsmittel den Angehörigen der Verschwundenen keine Lösung bieten“, kritisierte Setenay Eren. Die Samstagsmütter-Aktivistin ist selbst Betroffene dieser Straflosigkeit; ihr Onkel Hayrettin Eren wurde kurz nach dem Militärputsch im September 1980 in Istanbul festgenommen und von der Polizei zu Tode gefoltert. „Zweck einer wirksamen Untersuchung ist, die Rechenschaftspflicht sicherzustellen und damit eine abschreckende Wirkung auf Kriminelle zu erzielen“, so Eren. „Das Versäumnis des Staates, seiner Verpflichtung zur Durchführung wirksamer Ermittlungen nachzukommen, ebnet den Weg für ähnliche Verbrechen, die heute und in Zukunft begangen werden.“
Ayşe Tepe: Der Staat hat kein Bewusstsein für Menschenrechte
„Egal, wie viele Jahre vergehen, wir werden nicht aufgeben, Gerechtigkeit für Ferhat Tepe und für alle Verschwundenen zu fordern und den Staat daran zu erinnern, dass er seine Gesetze einzuhalten und die Menschenrechte im Einklang mit diesen Richtlinien zu achten hat“, forderte Ayşe Tepe. Die Schwester von Ferhat Tepe ist ebenfalls Mitglied der Initiative der Samstagsmütter und beteiligt sich seit Jahren immer wieder an den Mahnwachen in der Istanbuler Innenstadt. Sie warf der herrschenden Regierungskoalition aus der islamofaschistischen Erdoğan-Partei AKP und der rechtsextremen MHP vor, die Türkei zu einem autoritären Staat verwandelt zu haben, dem Menschenrechte nichts gelten. Sie hoffe daher, dass die nächste Regierung ein Bewusstsein für Menschenrechte haben werde „und den Mut für den längst überfälligen Schritt aufbringt, das Land zu demokratisieren und Gerechtigkeit für die Opfer des Verschwindenlassens zu schaffen“. Nach der Ansprache wurden rote Nelken für Ferhat Tepe auf den Galatasaray-Platz gelegt.